Dr. Christine Hohmann-Dennhardt
Solch unterschiedliche Einschätzungen ändern gewiss nichts daran, dass gerichtliche Sorgerechtsentscheidungen auf der Basis gewonnener Erkenntnisse über die tatsächlichen Familienkonstellationen und die Befindlichkeit betroffener Kinder zu mehr Einzelfallgerechtigkeit führen als eine in Normen gefasste generelle Schlussfolgerung aus einer gesetzgeberischen Bewertung elterlicher Konfliktlagen und deren Folgen für das Kind im Abstrakten. Doch ob eine Zuweisung gemeinsamer Sorgetragung kraft Gesetzes oder die Eröffnung einer gerichtlichen Einzelfallentscheidung bei Meinungsverschiedenheiten der Eltern tatsächlich zu einem deutlichen Anwachsen einer dauerhaften gemeinsamen Sorgetragung von Eltern nichtehelicher Kinder führt, ist schwer einzuschätzen. Denn diejenigen Gerichte, die ein zwangsweises elterliches Zusammenbinden oder -halten zur gemeinsamen Sorgetragung für kindeswohlschädlich erachten, werden vermutlich in den meisten Fällen nun konfliktorisch austragbarer Sorgerechtsstreitigkeiten mit ihrer Entscheidung bestätigen, was der Gesetzgeber nach bisherigem Recht vermutet und deshalb die gemeinsame Sorgetragung ausgeschlossen hat. Als Beispiel sei nur der Fall genommen, der der Entscheidung des EGMR zugrunde lag. Zwar hat der hier klagende Vater vor dem EGMR obsiegt und nun aufgrund der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts und der darin getroffenen vorläufigen Regelung die Möglichkeit, eine gerichtliche Entscheidung über seine Sorgetragung herbeizuführen. Wie aber schon Richter Schmitt in seinem Dissenting zur Entscheidung des EGMR über diesen Fall angemerkt hat, hatten die Fachgerichte im Instanzenzug jenseits der bis dato von ihnen anzuwendenden und nun als konventions- und verfassungswidrig erklärten Regelung des § 1626a BGB bereits festgestellt, dass die Begründung einer gemeinsamen Sorge auch deshalb nicht in Betracht käme, weil sie wegen eines zwischen den Eltern bestehenden Streits in Grundsatzfragen dem Kindeswohl nicht entspräche. Sollte sich dieser Streit inzwischen nicht gelegt haben, ist in diesem Fall das Ergebnis einer Entscheidung der Fachgerichte bei erneuter Anrufung nur unschwer abzusehen.
Bei denjenigen Gerichten wiederum, die der gemeinsamen Sorge von Eltern Nachdruck verleihen und ihr im Interesse des Kindeswohls eine Chance geben wollen, wird es voraussichtlich nun zwar zu häufigeren Begründungen gemeinsamer elterlicher Sorgetragung kommen. Das gilt erst recht, wenn sich der Gesetzgeber dazu entschließt, bei Vaterschaftsanerkenntnis die gemeinsame Sorge kraft Gesetzes eintreten zu lassen. Doch ob diese von Dauer sein wird, hängt – da kann das Recht wenig Einfluss nehmen – davon ab, wie konfliktgeladen die bestehenden Meinungsverschiedenheiten der Eltern tatsächlich sind und wie groß im Einzelfall deren Bereitschaft und Fähigkeit zur Kooperation ist. So könnte sich erweisen, dass es nicht die gemeinsame Sorgetragung ist, die durch die sorgerechtliche Neuregelung Aufwind erhält, sondern nun, nachdem dazu der Weg geebnet ist, Väter verstärkt den Antrag stellen, ihnen wegen von vornherein oder sich nachträglich erweisender, dem Kind nicht zuträglicher gemeinsamer Sorge anstelle der Mutter die Alleinsorge für ihr Kind zu übertragen. Das wäre nicht unbedingt zu bedauern. Denn so förderlich es für ein Kind ist, wenn sich seine Eltern, auch wenn sie getrennt leben, gemeinsam um sein Wohl bemühen, so wenig kann Eintracht zwischen ihnen erzwungen werden und so sehr leidet ein Kind unter elterlichem Dauerzwist. Wo dieser aber herrscht, ist es angebrachter, nicht den Umweg über eine zum Scheitern verurteilte gemeinsame elterliche Sorge zu wählen, sondern gerichtlich klären zu lassen, was dem Wohl des Kindes am besten entspricht: dass weiterhin seine Mutter für es Sorge trägt oder der Vater die Sorge übertragen erhält.