Dr. Christine Hohmann-Dennhardt
Trotz der unterschiedlichen Herangehensweise und Argumentation stimmen die inhaltlichen Positionen von BVerfG und EGMR, wie man sieht, dennoch weitgehend überein. So sind sich die beiden Gerichte selbst insoweit noch grundsätzlich einig, dass Konflikte der Eltern über die Sorgetragung für ihr Kind sich negativ auf das Kindeswohl auswirken und Grund dafür sein können, den Vater an der grundsätzlich der Mutter zugewiesenen Sorge nicht teilhaben zu lassen. Die Weichen werden nur dort anders gestellt, wo es um die Einschätzung elterlicher Konfliktlagen und deren Auswirkungen auf das Kindeswohl sowie um die Gründe für die Zustimmungsverweigerung der Mutter zur gemeinsamen Sorge geht. Während das BVerfG hier der gesetzgeberischen Einschätzung den Vortritt gelassen und diese nur mit dem Prüfungsvorbehalt künftiger Bestätigung in der Wirklichkeit versehen hat, hat der EGMR an dieser Stelle auf zweierlei verwiesen: erstens auf eine Widersprüchlichkeit des deutschen Gesetzgebers, Sorgerechtskonflikte von Eltern und ihre Auswirkungen auf das Kindeswohl bei der Trennung gemeinsam Sorgeberechtigter anders einzuschätzen und zu behandeln als bei der Begründung einer gemeinsamen Sorge nicht miteinander verheirateter Eltern. Und zweitens auf einen offenbaren Konsens der meisten Mitgliedstaaten, die Fachgerichte überprüfen und darüber entscheiden zu lassen, wie sich solche Konflikte im Einzelfall auf das Kindeswohl auswirken und ob unter Berücksichtigung dessen eine gemeinsame Sorgetragung der Eltern in Betracht kommt.
Ein solcher, vom Gerichtshof erkannter Staatenkonsens ist für sich genommen gewiss kein schlagkräftiges Argument, das gegen die deutsche Regelung zu Felde geführt werden kann. Mit dieser Bezugnahme auf andere Länder weist aber der EGMR indirekt auf die Quintessenz seiner Auffassung hin, nicht jeder Elternkonflikt müsse dem Kindeswohl abträglich sein, sodass eine gerichtliche Einzelfallprüfung notwendig ist, um auszuschließen, dass der Vater ohne sachlichen Grund durch Nichtbeteiligung an der gemeinsamen Sorge benachteiligt wird. Insofern widerspricht der Gerichtshof der Annahme des deutschen Gesetzgebers, der generelle Ausschluss des Vaters vom Sorgerecht sei erforderlich, um das Kind vor Elternkonflikten zu schützen, die sich zwangsläufig negativ auf das Kind auswirkten. Er hält ihm vor, dass von einer solchen Zwangsläufigkeit nicht ausgegangen werden könne. Dort, wo das BVerfG zunächst lediglich einfragezeichen angebracht hatte, hat also der EGMR die Einschätzung des Gesetzgebers nicht als Rechtfertigungsgrund für den gesetzlichen Ausschluss des Rechtswegs akzeptiert.
Allerdings hat der EGMR seine Entscheidung zu einem Zeitpunkt getroffen, bis zu dem seit dem Inkrafttreten der deutschen Sorgerechtsregelungen mehr als zehn Jahre lang Erfahrungen darüber gesammelt werden konnten, wie sich diese in der Praxis auswirken; Erfahrungen, die bei der Entscheidung des BVerfG noch nicht vorhanden waren. Obendrein liegen, dank des Prüfauftrags, den das BVerfG dem Gesetzgeber damals erteilt hat, mittlerweile Zahlen und (Zwischen)Ergebnisse von Erhebungen zur Frage vor, wie häufig es in Deutschland aufgrund der gesetzlichen Regelung zur Begründung gemeinsamer Sorgetragung kommt und welche Gründe es sind, die Mütter dazu bewegen, einer gemeinsamen Sorgetragung die Zustimmung zu verweigern.