A. Einleitung
I. Befund
Man liest und hört Vieles.
Beispiele:
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"Nicht selten sehen die betroffenen Eltern und die Verfahrensbeteiligten im beauftragten Sachverständigen den eigentlichen “Entscheider'". |
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"Gutachter als “heimliche Richter' im Kindschaftsverfahren?" |
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"Die Ohnmacht der Anwälte vor den allmächtigen Sachverständigen" |
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"Geht man davon aus, dass (nur) in 3–10 % aller Familiengerichtssachen Gerichtsgutachten angefertigt werden, dann wird die erhebliche Machtposition des Jugendamts im Verfahren deutlich." |
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"Gleichwohl ist in der familiengerichtlichen Praxis zu beobachten, dass sich Funktion und Einfluss des Jugendamts in Kindschaftssachen außerhalb von Verfahren nach §§ 1666, 1666a BGB immer mehr durch die wachsende Bedeutung der Verfahrensbeistände (§ 158 FamFG) verlagern." |
Erhebliche Machtposition des Jugendamts, wachsende Bedeutung der Verfahrensbeistände, Sachverständige als eigentliche Entscheider, als heimliche Richter – der Subtext dieser Zitate lautet in meinen Ohren: Nicht der Richter nimmt den Entscheidungsvorgang vor. Nicht der Richter entscheidet einen konkret-individuellen Sachverhalt am Maßstab einer abstrakt-generellen Norm. Nicht der Richter bildet sich eine Überzeugung. Der Richter übernimmt eine Überzeugung. Und es ist nicht der Richter, der die ihm anvertraute rechtsprechende Gewalt wahrnimmt. Und – weiter im Subtext – dies geschieht heimlich, bleibt den übrigen Beteiligten verborgen, wird vor ihnen verborgen gehalten.
Trifft dieser Befund zu, haben wir ein verfassungsrechtliches Problem. Trifft es zu, dass die von der Entscheidung Betroffenen auch nur den Eindruck haben, dieser Befund treffe zu, bekommen wir ein Problem beim Vertrauen in den Rechtsstaat.
II. Fragestellung
Die mir gestellte Aufgabe, das Thema – "Entscheider im Kindschaftsverfahren – Jugendamt, Verfahrensbeistand und Sachverständiger" – lässt sich in drei Richtungen entfalten:
- Gerieren sich die Verfahrensbeistände tatsächlich als "kleine Gutachter"? Geben die Richterinnen die Entscheidung tatsächlich aus der Hand? Haben die Jugendämter tatsächlich zu viel Einfluss auf die Verfahren? Überschreiten die Sachverständigen tatsächlich ihre Aufträge? Wer sind in der Familiengerichtspraxis tatsächlich die Entscheider? Und welchen Eindruck haben die Betroffenen? Das ist die rechtstatsächliche, empirische Fragestellung. Ihr gehe ich nicht nach. Mir liegen keine einschlägigen Untersuchungen dazu vor. Ich habe solche nicht angestellt. Ich bin dafür auch nicht kompetent, weder Rechtssoziologe noch Demoskop.
- Wer sollen de lege ferenda die Entscheider sein? Das ist die rechtspolitische Fragestellung. Sie zu diskutieren, setzt sinnvollerweise einen empirischen und einen normativen Befund voraus. Sie zu diskutieren, ist der zweite Schritt. Sie zu diskutieren gibt es andere, geeignetere Formate.
- Wer sind de lege lata nach den Vorgaben des Gesetzgebers die Entscheider. Wer sollen nach geltendem Recht die Entscheider sein? Das ist die normative Fragestellung. Sie nehme ich an.
III. Die Begrifflichkeiten des Themas (Abgrenzung und Einordnung)
Kindschaftsverfahren. Das sind die Kindschaftssachen aus dem Katalog des § 151 FamFG: namentlich elterliche Sorge (insbesondere §§ 1671, 1628, 1666, 1666a BGB), Umgangsrecht, Recht auf Auskunft über die persönlichen Verhältnisse des Kindes, Kindesherausgabe, Vormundschaft, Pflegschaft, Genehmigung freiheitsentziehender Unterbringung und freiheitsentziehender Maßnahmen, Anordnung freiheitsentziehender Unterbringung nach PsychKG.
Jugendamt, Verfahrensbeistand, Sachverständige. Ich nenne sie Akteure, professionelle Akteure, weil der Begriff der Beteiligten nicht passt (der Verfahrensbeistand ist immer Beteiligter, der Sachverständige ist nie Beteiligter, das Jugendamt ist manchmal Beteiligter). Beteiligte sind außerdem die Eltern und das Kind, um deren Handeln im Verfahren es hier jedoch nicht gehen soll. Zugleich werden andere Akteure in den Blick geraten: Rechtsanwältinnen und Richter.
Entscheiden: Die Entscheidung beginnt nicht erst, wenn die Richterin den Beschluss abfasst und ihn sodann "erlässt" im Sinne von § 38 Abs. 3 FamFG. Nicht erst, wenn die tatsächlichen Feststellungen und der Subsumtionsvorgang schriftlich fixiert werden. Jede Entscheidung beginnt mit dem ersten Schritt ihrer Vorbereitun...