In seiner Grundsatzentscheidung vom 1.2.2017 hat der BGH die bis dahin in Rechtsprechung und Literatur kontrovers diskutierte Frage der familiengerichtlichen Anordnung eines paritätischen Wechselmodells mit dem Inhalt entschieden, dass eine solche Regelung grundsätzlich auch gegen den erklärten Willen eines Elternteils erfolgen kann. Mit den für die Elternebene sowie den zur näheren Präzisierung des Kindeswohlbegriffes herangezogenen anerkannten Prüfungskriterien wurde der Praxis eine gesicherte Grundlage zur jeweiligen Einzelfallbewertung an die Hand gegeben.
In seiner Grundsatzentscheidung hat der BGH zunächst allerdings offengelassen, ob die familiengerichtliche Anordnung eines Wechselmodells Gegenstand einer sorgerechtlichen Regelung sein kann. Klargestellt wurde lediglich, dass die Übertragung des Aufenthaltsbestimmungsrechts auf einen Elternteil nicht zwangsläufig ein Residenzmodell bei der Betreuung des Kindes zur Folge hat, wobei in unmittelbarer zeitlicher Folge auch das BVerfG eine Verfassungsbeschwerde, die sich auf die Feststellung richtet, dass ein Wechselmodell gegen den Willen eines Elternteils nicht durch eine Umgangsregelung angeordnet werden dürfe, nicht zur Entscheidung angenommen hat. In der Praxis und Literatur wird daher unverändert darüber diskutiert, ob die Anordnung eines paritätischen Wechselmodells als umgangs- oder sorgerechtliche Regelung zu bewerten ist.
Gem. § 1631 Abs. 1 BGB ist der Sorgeberechtigte befugt, den Aufenthalt des Kindes, d.h. dessen Wohnort und Wohnung zu bestimmen. Vom Aufenthaltsbestimmungsrecht unabhängig zu sehen ist das – ebenfalls dem Sorgeberechtigten zustehende – Umgangsbestimmungsrecht nach § 1632 Abs. 2 BGB, d.h. das Recht, den Umgang des Kindes, auch mit Wirkung für und gegen Dritte, zu bestimmen, wobei der wesentliche Anwendungsbereich dieses Rechts sich auf Umgangsgebote und -verbote erstreckt, die Teil der Erziehung des Kindes und zu seinem Schutz erforderlich sind. Soweit jedoch das Umgangsrecht eines Elternteils in Rede steht, lässt sich bereits aus § 1626 Abs. 3 BGB der hohe Stellenwert ableiten, den der Gesetzgeber dem Umgangsrecht zwischen einem Elternteil und dem Kind beimisst. Dieser vom Gesetz anerkannte und durch Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG geschützte Anspruch auf Umgang mit dem Kind korrespondiert mit dem in § 1684 Abs. 1 BGB ausdrücklich verankerten originären Anspruch des Kindes auf Umgang mit jedem Elternteil. Die grundsätzliche sorgerechtliche Befugnis eines Elternteils zur Aufenthaltsbestimmung des Kindes wird daher begrenzt durch Umgangsrechte des jeweils anderen Elternteils, sei es aus § 1684 Abs. 1 BGB oder aus § 1686a BGB folgend.
In diesem Kontext zu sehen ist nicht nur die aktuelle Entscheidung des BGH vom 19.1.2022 sondern auch ein bereits unter Datum vom 27.11.2019 ergangener Beschluss, der fast wortgleich in seiner Begründung darauf verweist, dass – losgelöst vom unveränderten Bestand des Sorgerechtsstatus als solchem – Einschränkungen der hieraus grundsätzlich folgenden Befugnisse denkbar sind, wenn sie erforderlich sind, um das Umgangsrecht des anderen Elternteils bzw. den Umgangsanspruch des Kindes selbst zu gewährleisten, und zwar auch dann, wenn im Ergebnis die Umgangs- d.h. die Betreuungszeit eines Elternteils sich auf einen hälftigen Anteil erstreckt.
Unabhängig von der Berechtigung und Beachtlichkeit der in Rechtsprechung und Literatur geäußerten Kritik an der dogmatischen Zuordnung eines paritätischen Wechselmodells als Umgangsregelung, ist letztlich für die Praxis entscheidend, dass der BGH seit 2019 – d.h. in einer als gefestigt anzusehenden Rechtsprechung – die familiengerichtliche Anordnung eines paritätischen Wechselmodells als eine nach umgangsrechtlichen Vorgaben zu treffende Regelung bewertet. Die sich hieraus ergebenden rechtlichen Folgen, etwa die Rechtsmittelfähigkeit eines im Eilverfahren ergangenen Beschlusses oder die Voraussetzungen zur Änderung einer praktizierten (nicht gerichtlich geregelten) paritätischen Umgangsregelung, hat der Praktiker in seiner Beratung allein an der höchstrichterlichen Rechtsprechung auszurichten.
Monika Clausius, Rechtsanwältin und Fachanwältin für Familienrecht, Saarbrücken
FF 5/2022, S. 207 - 210