A. Einführung
Mit diesem Beitrag gibt die Autorin einen Überblick über einige im Jahr 2023 ergangene bzw. veröffentlichte Entscheidungen im Kindschaftsrecht mit Hinweisen für die Praxis. Der Aufsatz schließt sich an die Übersicht in FF 2023, 198 an.
B. Art. 8 EMRK
Wie bereits letztes Jahr sollen auch dieses Jahr zunächst zwei Urteile des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte (EGMR) angesprochen werden, die für die nationale Praxis von Interesse sein dürften.
Das Verfahren Sioud v. Germany betrifft einen Fall des durch das Kind verweigerten Umgangs mit dem Vater. Der Gerichtshof kommt zu einer Verurteilung Deutschlands wegen einer Verletzung des Rechts des Vaters auf Familienleben nach Art. 8 I EMRK durch deutsche Gerichte. Das OLG hätte, da Anzeichen bestanden, dass die Umgangsverweigerung des Kindes auf dem Verhalten des Obhutselternteils beruht und die Fachbeteiligten übereinstimmend die Einholung eines Sachverständigengutachtens angeregt haben, sich im Einzelnen mit den festgestellten Anzeichen auseinandersetzen und ausreichende Gründe darlegen müssen, warum es den Anregungen nicht folgt. Auch sei die Wiederholung der Kindesanhörung notwendig gewesen, da das OLG andere Konsequenzen aus der erstinstanzlichen Kindesanhörung gezogen hat als das Familiengericht.
Das zweite Urteil betrifft ebenfalls ein Umgangsverfahren und ist aus zwei Gründen relevant: zum Einen weist der Gerichtshof auf die Verpflichtung der Gerichte hin, die Gründe für eine Umgangsverweigerung des Kindes zu ermitteln und Maßnahmen zur Wiederanbahnung von Umgang einzuleiten, soweit Kindeswohlgesichtspunkte dem nicht entgegenstehen. Zum Anderen verweist der Gerichtshof auf die Verpflichtung der nationalen Gerichte, in Umgangsverfahren den Kontext häuslicher Gewalt bei der zu treffenden Entscheidung zu berücksichtigen.
C. §§ 1666, 1666a, 1632 BGB
Das BVerfG hat in einer begründeten Nichtannahmeentscheidung vom 16.2.2023 darauf hingewiesen, dass der vorläufige Entzug der elterlichen Sorge und die Anordnung von Vormundschaft gerechtfertigt sein kann, wenn der Obhutselternteil über einen längeren Zeitraum den Umgang mit dem rechtlichen Vater verhindert, in der Gesamtschau Anhaltspunkte für eine deutlich eingeschränkte Erziehungsfähigkeit dieses Elternteils bestehen und er dem Kind altersadäquate soziale Kontakte vorenthält, zumal wenn der Aufenthalt des Obhutselternteils völlig unbekannt ist und dieser sich einer Sachverhaltsaufklärung nachweislich entzogen hat.
Die Stattgabe des BVerfG vom 17.11.2023 ist für die Praxis von Interesse, weil es in dem Verfahren um die Frage der Geeignetheit eines vollständigen Sorgerechtsentzugs geht, wenn der elterliche Hochkonflikt der getrenntlebenden Eltern zu erheblichen Beeinträchtigungen der Kinder führt. Die Kammer zeigt einmal mehr die notwendige kleinteilige Prüfungs- und Begründungspflicht der Gerichte auf, wenn es um die Feststellung einer Kindeswohlgefährdung und die Verhältnismäßigkeit eines Sorgerechtsentzugs geht. Der Entscheidung lag ein nach § 1671 BGB eingeleitetes Verfahren bzgl. der 2007, 2008 und 2014 geborenen Kinder zugrunde, das nach Einholung eines Gutachtens mit einem teilweisen Sorgerechtsentzug durch das AG und einem vollständigen durch das OLG endete. Das BVerfG betont im Hinblick auf die in einer Wohngruppe lebende jüngste Tochter zunächst, dass der strenge Prüfungsmaßstab des Art. 6 Abs. 3 GG auch dann gilt, wenn die Eltern der Fremdunterbringung zugestimmt haben. Die Kammer rügt, dass es im Hinblick auf die Tochter an der hinreichend konkreten Feststellung einer Kindeswohlgefährdung mangelt. Die auf die Einschätzung des Sachverständigen und das Ergebnis der Kindesanhörung gestützte Annahme einer deutlichen Parentifizierung unter Zurückstellung der eigenen Bedürfnisse zur Entlastung des "Familiensystems" reicht hierfür nicht aus, wenn gleichzeitig eine hohe Resilienz und eine besonders positive Entwicklung festgestellt wird. Bzgl. der Söhne sei eine Kindeswohlgefährdung zwar tragfähig angenommen worden, doch lasse die Entscheidung nicht hinreichend erkennen, dass der vollständige Entzug des Sorgerechts insoweit ein zur Überwindung der Schädigung verhältnismäßiger Eingriff in das Elternrecht sei. Die Annahme, ausschließlich die Übertragung des Sorgerechts auf die Vormünder könne verhindern, dass die Eltern bei Einzelentscheidungen der elterlichen Sorge ihren Hochkonflikt auf Kosten ihrer Kinder austrügen, reiche nicht aus. Denn es werde nicht klar, warum da...