GG Art. 2 Abs. 2 S. 1, Art. 3 Abs. 1, Art. 6 Ab. 1, BVerfGG § 32 Abs. 1, 93d Abs. 2; § 20 Infektionsschutzgesetz (IfSG)
Leitsatz
1. Wird im Eilverfahren die Aussetzung des Vollzugs eines Gesetzes begehrt und erweist sich die Verfassungsbeschwerde in der Hauptsache nicht von vornherein als unzulässig oder offensichtlich unbegründet, ist bei der gebotenen Folgenabwägung ein besonders strenger Maßstab anzulegen. Ein Gesetz darf nur dann vorläufig am Inkrafttreten gehindert werden, wenn die Nachteile, die mit seinem Inkrafttreten nach späterer Feststellung seiner Verfassungswidrigkeit verbunden wären, in Ausmaß und Schwere die Nachteile deutlich überwiegen, die im Falle der vorläufigen Verhinderung eines sich als verfassungsgemäß erweisenden Gesetzes einträten. Bei dieser Folgenabwägung sind die Auswirkungen auf alle von dem Gesetz Betroffenen zu berücksichtigen, nicht nur Folgen, die sich für die Beschwerdeführer ergeben (vgl. BVerfG v. 4.5.2012 – 1 BvR 367/12, BVerfGE 131, 47 <61>; BVerfG v. 28.4.2020 – 1 BvR 899/20 Rn 10). (Rn 10)
2. Ziel des Masernschutzgesetzes ist namentlich der Schutz von Leben und körperlicher Unversehrtheit, zu dem der Staat prinzipiell auch kraft seiner grundrechtlichen Schutzpflicht aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG angehalten ist. Bei Gegenüberstellung der jeweils zu erwartenden Folgen muss das Interesse der Antragsteller, ihre Kinder ohne Masernschutzimpfung in einer Gemeinschaftseinrichtung betreuen zu lassen beziehungsweise selbst dort betreut zu werden, gegenüber dem Interesse an der Abwehr infektionsbedingter Risiken für Leib und Leben einer Vielzahl von Personen zurücktreten. Die Nachteile, die mit Inkrafttreten der angegriffenen Regelungen des Masernschutzgesetzes nach späterer Feststellung seiner Verfassungswidrigkeit verbunden wären, überwiegen in Ausmaß und Schwere nicht – und schon gar nicht deutlich – die Nachteile, die im Falle der vorläufigen Verhinderung eines sich als verfassungsgemäß erweisenden Gesetzes einträten. (Rn 15) (Rn 16)
BVerfG, Beschl. v. 11.5.2020 – 1 BvR 469/20 und 1 BvR 470/20
Aus den Gründen
Gründe: [1] Die Voraussetzungen aus § 32 Abs. 1 BVerfGG für den Erlass der jeweils begehrten einstweiligen Anordnung liegen nicht vor.
I. [2] 1. Die Beschwerdeführer wenden sich mit ihren mit einem Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung verbundenen Verfassungsbeschwerden gegen § 20 Abs. 8 S. 1 bis 3, Abs. 9 S. 1 und 6, Abs. 12 S. 1 und 3 und Abs. 13 S. 1 des Infektionsschutzgesetzes (IfSG) in der Fassung des Gesetzes für den Schutz vor Masern und zur Stärkung der Impfprävention (Masernschutzgesetz) vom 10.2.2020 (BGBl I S. 148), in Kraft getreten am 1.3.2020.
[3] Die mit den Verfassungsbeschwerden angegriffene Regelung sieht unter anderem vor, dass Kinder, die in einer Kindertagesstätte oder in der erlaubnispflichtigen Kindertagespflege betreut werden, einen ausreichenden Impfschutz gegen Masern oder eine Immunität gegen Masern aufweisen müssen (§ 20 Abs. 8 S. 1 Nr. 1, S. 2 und 3 IfSG), sofern sie nicht aufgrund einer medizinischen Kontraindikation nicht geimpft werden können (§ 20 Abs. 8 S. 4 IfSG). Ferner muss vor Beginn ihrer Betreuung ein entsprechender Nachweis vorgelegt werden (§ 20 Abs. 9 S. 1 IfSG).
[4] 2. In beiden Verfahren sind die Beschwerdeführer zu 1 und 2 jeweils gemeinsam sorgeberechtigte Eltern, die Beschwerdeführer zu 3 jeweils ihre einjährigen Kinder, die zeitnah in einer kommunalen Kindertagesstätte beziehungsweise von einer Tagesmutter, die die Erlaubnis zur Kindertagespflege nach § 43 SGB VIII besitzt, betreut werden sollen. Die Kinder sind nicht gegen Masern geimpft. Es besteht weder eine medizinische Kontraindikation gegen eine Masernschutzimpfung noch verfügen sie über eine entsprechende Immunität.
[5] 3. Die minderjährigen Beschwerdeführer rügen eine Verletzung von Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG, deren Eltern eine Verletzung von Art. 6 Abs. 2 GG und sämtliche Beschwerdeführer zudem eine Verletzung von Art. 3 Abs. 1 GG.
[6] Ohne Nachweis einer Masernschutzimpfung trete kraft Gesetzes ein Verbot ein, die Beschwerdeführer zu 3 in einer Kindertagesstätte oder einer Kindertagespflege nach § 43 SGB VIII zu betreuen und aufzunehmen. Um dies zu vermeiden, müssten die Eltern, in Ausübung ihrer Gesundheitssorge für ihre Kinder, die Impfungen herbeiführen. Die Masernschutzimpfungen griffen aber in unverhältnismäßiger Weise in das Grundrecht der Beschwerdeführer zu 3 auf körperliche Unversehrtheit ein. Außerdem werde ebenfalls unverhältnismäßig in das Elternrecht der jeweiligen Beschwerdeführer zu 1 und 2 eingegriffen. Diese könnten die nach ihrem Erziehungsplan vorgesehene Betreuung in einer Kindertagesstätte beziehungsweise der Kindertagespflege nicht verwirklichen, ohne eine nicht verhältnismäßige medizinische Maßnahme zu Lasten ihres jeweiligen Kindes zu dulden. Auf ihre – mithilfe ärztlicher Beratung gebildete – elterliche Entscheidung über die Durchführung der Impfung käme es dann überhaupt nicht an.
[7] 4. Die Notwendigkeit der begehrten einstweiligen Anordnungen begründen die Beschwer...