GG Art. 2 Abs. 2 S. 1, BVerfGG §§ 23 Abs. 1 S. 2, 92
Leitsatz
1. Der Staat darf Regelungen treffen, die auch den vermutlich gesünderen und weniger gefährdeten Menschen in gewissem Umfang Freiheitsbeschränkungen abverlangen, wenn gerade hierdurch auch den stärker gefährdeten Menschen, die sich ansonsten über längere Zeit vollständig aus dem Leben in der Gemeinschaft zurückziehen müssten, ein gewisses Maß an gesellschaftlicher Teilhabe und Freiheit gesichert werden kann.
2. Der Staat hat stets einen verhältnismäßigen Ausgleich zwischen der Freiheit der einen und dem Schutzbedarf der anderen zu schaffen. Dabei haben der Gesetzgeber und auch die von ihm zum Verordnungserlass ermächtigte Exekutive von Verfassungs wegen einen Spielraum für den Ausgleich dieser wiederstreitenden Grundrechte sowie wegen der im fachwissenschaftlichen Diskurs auftretenden Ungewissheiten und der damit unsicheren Entscheidungsgrundlage auch einen tatsächlichen Einschätzungsspielraum. Dieser Spielraum kann mit der Zeit – etwa wegen besonders schwerer Grundrechtsbelastungen und wegen der Möglichkeit zunehmender Erkenntnis – geringer werden.
(Leitsätze der Red.)
BVerfG, Nichtannahmebeschl. v. 13.5.2020 – 1 BVerfG 1021/20
Aus den Gründen
Gründe: I. [1] 1. Der anwaltlich nicht vertretene Beschwerdeführer wendet sich mit seiner – mit einem Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung verbundenen – Verfassungsbeschwerde unmittelbar gegen § 1 Abs. 1, § 4 Abs. 1 und 2, § 7 Abs. 1 und 2 und § 8 der Dritten Bayerischen Infektionsschutzmaßnahmenverordnung vom 1.5.2020 (BayMBl Nr. 239, im Folgenden: Dritte BayIfSMV). Die angegriffenen Regelungen betreffen allgemeine Kontaktbeschränkungen, sowie ein Versammlungs- und Veranstaltungsverbot, die Betriebsuntersagung für Fitnessstudios und Gastronomiebetriebe und schließlich die Pflicht zur Maskentragung im öffentlichen Personennahverkehr. Die angegriffene Verordnung trat am 4.5.2020 in Kraft und galt mit verschiedenen Änderungen, die jeweils zu Lockerungen der Freiheitsbeschränkungen führten, bis zum 10.5.2020. Am 11.5.2020 wurde die Dritte Bayerische Infektionsschutzmaßnahmenverordnung durch die Vierte Bayerische Infektionsschutzmaßnahmenverordnung vom 5.5.2020 (BayMBl Nr. 240 in der Fassung der Änderungsverordnung vom 7.5.2020, BayMBl Nr. 247, im Folgenden: Vierte BayIfSMV) abgelöst. Die angegriffenen Regelungen entsprechen im Wesentlichen den derzeit geltenden Regelungen der Vierten Bayerischen Infektionsschutzmaßnahmenverordnung, die allerdings weitere Lockerungen der allgemeinen Kontaktbeschränkungen enthält. Mit Schriftsatz vom 10.5.2020 hat der Beschwerdeführer erklärt, dass er den Eilantrag nunmehr auf die Vierte Bayerische Infektionsschutzmaßnahmenverordnung umstelle.
[2] 2. Die angegriffenen Regelungen der Dritten Bayerischen Infektionsschutzmaßnahmenverordnung wie auch die Vorgängerregelungen der Zweiten Bayerischen Infektionsschutzmaßnahmenverordnung hat der Beschwerdeführer – nach entsprechendem Hinweis der Kammer im Beschl. v. 24.4.2020 (1 BvR 900/20) – mit einem Normenkontrollantrag sowie einem damit verbundenen Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz vor dem Bayerischen Verwaltungsgerichtshof zur fachgerichtlichen Prüfung gestellt. Hierüber hat der Bayerische Verwaltungsgerichtshof soweit ersichtlich noch nicht entschieden. Der Beschwerdeführer trägt vor, der Bayerische Verwaltungsgerichtshof habe ihn darauf hingewiesen, dass eine Entscheidung über den Antrag auf Eilrechtsschutz nicht mehr ergehen werde, da die Dritte Bayerische Infektionsschutzmaßnahmenverordnung nur noch in der betroffenen Woche gelte und der Verwaltungsgerichtshof überlastet sei.
[3] 3. Der Beschwerdeführer sieht sich durch die angegriffenen Regelungen in seinen Grundrechten aus Art. 2 Abs. 1 und Abs. 2 S. 1 sowie Art. 8 GG verletzt. Die Verordnung sei schon deshalb verfassungswidrig, weil sie nicht begründet worden sei. Die Verhältnismäßigkeit der Maßnahmen und die Zielerreichung seien damit nicht überprüfbar. Es fehle zudem an einer Entscheidung des parlamentarischen Gesetzgebers über die ergriffenen Maßnahmen. Die gegen die Nicht-Risikogruppe der Bevölkerung gerichteten Maßnahmen seien unverhältnismäßig und willkürlich. Für die Teile der Bevölkerung, die unter 60 Jahre alt seien, sei die Gefährdung durch das Coronavirus nicht größer als durch die jährlich auftretenden Influenzaviren. Zum Schutz der Risikogruppen und des Krankenhaus- und Pflegepersonals seien die ergriffenen Maßnahmen nicht erforderlich, solange diese Personengruppen selbst die "Quarantänemaßnahmen" einhielten. Die Gesundheitsgefahren, die gerade durch die ergriffenen Maßnahmen hervorgerufen würden, seien demgegenüber erheblich. Eine Überlastung des Gesundheitssystems sei nach den vorliegenden Zahlen nicht absehbar.
[4] 4. Der Beschwerdeführer hat mit Erhebung der Verfassungsbeschwerde die Mitglieder der 1. Kammer des Ersten Senats als befangen abgelehnt, da diese Kammer ihn mit Beschl. v. 24.4.2020 (1 BvR 900/20) unter fehlerhafter Anwendung von § 90 Abs. 2 S. 2 BVerfGG auf den fac...