1. Bei der staatlichen Pflicht zum Schutz von Leben und Gesundheit hat der Gesetzgeber einen anerkannt weiten Einschätzungs-, Wertungs- und Gestaltungsraum. Was konkret zu tun ist, um Grundrechtsschutz zu gewährleisten, hängt von vielen Faktoren ab, im Besonderen von der Eigenart des Sachbereichs, den Möglichkeiten, sich ein hinreichend sicheres Urteil zu bilden, und der Bedeutung der hier betroffenen Rechtsgüter (vgl. zuletzt BVerfG, Urt. des Zweiten Senats v. 26.2.2020 – 2 BvR 2347/15 Rn 224 m.w.N.).

2. Das Bundesverfassungsgericht kann die Verletzung einer Schutzpflicht nur feststellen, wenn Schutzvorkehrungen entweder überhaupt nicht getroffen sind, wenn die getroffenen Regelungen und Maßnahmen offensichtlich ungeeignet oder völlig unzulänglich sind, das gebotene Schutzziel zu erreichen, oder wenn sie erheblich hinter dem Schutzziel zurückbleiben (vgl. BVerfGE 56, 54 <80>; 77, 170 <215>; 92, 26 <46>; 125, 39 <78 f.>; 142, 313 <337 f.

3. Der Gesetzgeber überschreitet seine Einschätzungsprärogative zu Corona-Schutzmaßnahmen nicht, wenn er soziale Interaktion unter bestimmten Bedingungen zulässt. Dabei kann er auch die gesellschaftliche Akzeptanz der angeordneten Maßnahmen berücksichtigen und ein behutsames oder auch wechselndes Vorgehen im Sinne langfristig wirksamen Lebens- und Gesundheitsschutzes für angezeigt halten.

4. Der Gesetzgeber ist nicht verpflichtet, wissenschaftlichen Studien zu folgen, wenn auch fachwissenschaftlich nicht gesichert ist, welche Lockerungsmaßnahmen welchen genauen Effekt auf das Infektionsgeschehen haben, die Einschätzungen vielmehr auf Szenarien beruhen, die von zahlreichen Faktoren abhängig sind, welche wiederum nicht sicher prognostiziert werden können.

(Leitsätze der Red.)

BVerfG, Nichtannahmebeschl. v. 12.5.2020 – 1 BVerfG 1027/20

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