Prof. Dr. Dr. h.c. Volker Lipp
Schnitzler/FF:
Die Corona-Pandemie hat uns seit gut einem Jahr alle im Griff, nicht nur Deutschland und Europa, sondern die ganze Welt.
Der französische Staatspräsident hat Anfang letzten Jahres den berühmten Satz geprägt: "Nous sommes en guerre". Bundeskanzlerin Merkel sprach zwar nicht von Krieg, aber auch von einer sehr ernsten Situation, die ernsteste Krise seit dem 2 Weltkrieg. Wer zu dem Zeitpunkt noch nicht begriffen hatte, dass es schwierig wird, die Krankheit und die damit zusammenhängenden Folgeerscheinungen in den Griff zu bekommen, dem ist wahrscheinlich auch nicht mehr zu helfen.
Wir haben uns alle mit neuen Begriffen, auch mit der Bedeutung von Kommissionen beschäftigen dürfen, die bisher nicht allgemein im Bewusstsein der Bevölkerung bekannt waren, wie etwa die StiKo – die Ständige Impfkommission – (am Robert-Koch-Institut) oder der Deutsche Ethikrat.
Inzwischen scheint die 3. Welle – hoffentlich – gebrochen zu sein, nicht zuletzt durch die zunehmenden Impfungen in der Bevölkerung.
Teilen Sie die Auffassung, dass wir auf einem guten Weg sind, die Pandemie zurückzudrängen – nicht zuletzt durch die vielen neuen Impfstoffe?
Lipp:
Mir geht es dabei wie den meisten Menschen: Die Entwicklung der letzten Wochen stimmt mich zuversichtlich. Immer mehr Menschen werden geimpft, immer weniger erkranken schwer an Corona, und unser Gesundheitssystem bleibt funktionsfähig im Interesse aller kranker Menschen. Daher sind wir meines Erachtens tatsächlich auf einem guten Weg.
Allerdings gilt auch dafür ein Satz, der schon vielen zugeschrieben wurde, von Mark Twain, über Kurt Tucholsky bis hin zu Niels Bohr: Prognosen sind schwierig, vor allem, wenn sie die Zukunft betreffen. Mit anderen Worten: Wir alle wissen nicht, was uns in der Zukunft erwartet und wie sich die Pandemie entwickelt. Daher müssen wir die Entwicklung weiterhin genau beobachten und die Infektionsschutzmaßnahmen schrittweise an die jeweilige Situation anpassen und, das scheint mir besonders wichtig, bereits heute damit beginnen, für den kommenden Herbst und Winter zu planen.
Schnitzler/FF:
Bei der medialen Begleitung wird häufig der Eindruck erweckt wird, als würden irgendwelche Grundrechte zurückgegeben. Meines Erachtens eine völlig falsche Sicht der Dinge. wir haben Grundrechte nicht abgegeben im Rahmen der Pandemie und müssen sie jetzt vom Staat zurückverlangen, sondern der Staat hat zulässigerweise aufgrund der Gesundheitsgefahren bestimmte Grundrechte eingeschränkt.
Wie kann man eine Bevölkerung deren Teil schon geimpft ist (rund 37. Mio. Mitte Mai 2021, also ca. 33 % zumindest mit der Erstimpfung) in Einklang bringen mit denen die noch nicht geimpft sind?
Kann der Bevölkerung der Neid auf die "Privilegierten" genommen werden und dass sie irgendetwas verpassen wie Reisen, Konzerte, Fußballspiel in Stadien usw.?
Lipp:
Sie haben völlig Recht. Die Grundrechte werden vom Staat weder "gewährt" noch "entzogen" und dann "zurückgegeben". Vielmehr stehen sie dem Einzelnen gegenüber dem Staat ohne Wenn und Aber zu – auch und gerade in der Pandemie. Sie können allerdings zum Schutz der Gesundheit anderer Menschen eingeschränkt werden. Dafür gelten die üblichen Voraussetzungen für staatliche Eingriffe in die Grundrechte, insbesondere der Gesetzesvorbehalt und der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz. Dazu gehört auch, dass diese Voraussetzungen immer wieder überprüft werden müssen, wenn sich die Gefährdungslage ändert.
Wenn die Zahl der schwer an Corona erkrankten Menschen stetig abnimmt und das Gesundheitssystem zunehmend in den "Normalbetrieb" übergeht, muss daher geprüft werden, ob die bestehenden Grundrechtseinschränkungen zum Infektionsschutz auch künftig weiterhin notwendig und angemessen sind oder ob sie durch weniger eingriffsintensive Maßnahmen ersetzt oder ganz aufgehoben werden können und müssen. Die sogenannte "Bundesnotbremse" ist dafür ein gutes Beispiel: Da sich die Lage im Juni weiterhin so positiv entwickelte, wurde sie nicht verlängert, sondern ist zum 30.6. ausgelaufen. Vergleichbares gilt für die Beschränkungen auf Landes- und kommunaler Ebene. Natürlich kann und muss man darüber streiten, ob ihre Einführung gerechtfertigt war und wann sie aufgehoben werden müssen. Davon zeugen sowohl die öffentliche Diskussion wie zahlreiche Gerichtsverfahren. Doch stellt das die genannten Grundsätze als solche nicht infrage, sondern bestätigt sie, denn auch die Kritiker der Maßnahmen berufen sich darauf.
Die Frage nach dem Umgang mit Geimpften und Nichtgeimpften gehört in diesen Zusammenhang, denn es geht darum, inwieweit Infektionsschutzmaßnahmen gegenüber Geimpften gerechtfertigt sind. Wichtig dafür ist, dass Infektionsschutz dem Schutz Dritter vor einer Ansteckung und der Allgemeinheit (insbesondere vor einer Überlastung des Gesundheitswesens) dient, nicht dem Schutz der Geimpften selbst. Es kommt also vor allem darauf an, ob Geimpfte andere Menschen mit dem Corona-Virus anstecken können. Das war lange Zeit schlicht unbekannt, denn für d...