Einführung
Am 25.6.2019 hat der Rat der Europäischen Union die Verordnung (EU) 2019/1111 über die Zuständigkeit, die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Ehesachen und in Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung und über internationale Kindesentführungen (im Folgenden: Brüssel IIb-VO) erlassen, die die seit 2005 geltende Brüssel IIa-VO fortentwickelt und in ihren entscheidenden Teilen ab dem 1.8.2022 anwendbar sein wird. Die erforderlichen Anpassungen der nationalen Durchführungsvorschriften finden sich in einer ebenfalls ab dem 1.8.2022 geltenden Neufassung des Internationalen Familienrechtsverfahrensgesetzes (im Folgenden: IntFamRVG 2022).
Der vorliegende Beitrag skizziert die wesentlichen Änderungen gegenüber dem bisherigen Rechtszustand, wobei die Neuregelungen für den schnelleren Überblick abweichend von der Systematik der Verordnung jeweils zusammenfassend zu den Regelungskomplexen Ehesachen, elterliche Verantwortung und internationale Kindesentführungen dargestellt werden. Auch über den Stichtag 1.8.2022 hinaus werden allerdings die Brüssel IIa-VO und das IntFamRVG in der bis zum 31.7.2022 geltenden Fassung nicht obsolet werden, da die Brüssel IIb-VO bzw. das IntFamRVG 2022 gemäß den Übergangsvorschriften in Art. 100 Abs. 1 Brüssel IIb-VO und § 55 IntFamRVG 2022 nur für am oder nach dem 1.8.2022 eingeleitete gerichtliche Verfahren, förmlich errichtete oder eingetragene öffentliche Urkunden und eingetragene Vereinbarungen gelten. Für alle anderen Verfahren bleibt es bei der Anwendbarkeit der Brüssel IIa-VO bzw. des IntFamRVG in der bis zum 31.7.2022 geltenden Fassung. Angesichts der Dauerwirkung von Entscheidungen in Ehesachen und in Angelegenheiten der elterlichen Verantwortung führt dies auf längere Sicht zu einem unerfreulichen, aber wohl unvermeidlichen Nebeneinander zweier unterschiedlicher Regime. Vor allem in Kindschaftssachen wird hier künftig besondere Aufmerksamkeit geboten sein.
I. Ehesachen
Auch wenn die Bezeichnung der Verordnung unverändert geblieben ist, enthält die Brüssel IIb-VO nicht nur Bestimmungen über die Zuständigkeit, die Anerkennung und Vollstreckung von "Entscheidungen in Ehesachen", sondern regelt ausdrücklich auch die Anerkennung und Vollstreckung von öffentlichen Urkunden und Vereinbarungen über Ehescheidungen und Trennungen ohne Auflösung des Ehebandes.
1. Gerichtliche Entscheidungen
Überschaubar sind die Änderungen, die die Brüssel IIb-VO für die Zuständigkeit der Gerichte der Mitgliedstaaten in Ehesachen und die Anerkennung gerichtlicher Entscheidungen auf diesem Gebiet mit sich bringt.
Zu nennen ist hier zum einen die Neuregelung der nationalen Restzuständigkeit in Art. 6 Brüssel IIb-VO, der die bisherigen Art. 6 und 7 Brüssel IIa-Verordnung übersichtlicher und verständlicher zusammenfasst.
Inhaltlich unverändert geblieben sind die Gründe, die der Anerkennung einer Entscheidung in Ehesachen entgegenstehen und nun in Art. 38 Brüssel IIb-VO zu finden sind. Lediglich terminologisch wird – in Anpassung an andere Änderungen im Rechtsschutzsystem der Verordnung – nicht mehr wie bisher in Art. 22 Brüssel IIa-VO von Gründen für die Nichtanerkennung, sondern von Gründen für die Versagung der Anerkennung gesprochen. Entsprechend sind an die Stelle des bislang in Art. 21 Abs. 3 Brüssel IIa-VO geregelten Antrags auf gerichtliche Entscheidung über die Anerkennung oder Nichtanerkennung einer Entscheidung neu gefasste Rechtsschutzmöglichkeiten getreten. Vorgesehen sind nun zum einen der Antrag auf gerichtliche Feststellung gemäß Art. 30 Abs. 3 Brüssel IIb-VO, dass keiner der in Artikel 38 genannten Gründe für eine Versagung der Anerkennung gegeben ist, und zum anderen der Antrag auf gerichtliche Versagung der Anerkennung gemäß Art. 40 Abs. 1 Brüssel IIb-VO. Beide Verfahren richten sich gemäß den Verweisungen in Art. 30 Abs. 3 bzw. 40 Abs. 1 Brüssel IIb-VO sowie in § 44j IntFamRVG 2022 im Wesentlichen nach den Vorschriften über das Verfahren auf Versagung der Vollstreckung, d.h nach den Art. 59 ff Brüssel IIb-VO in Verbindung mit §§ 44b bis 44e IntFamRVG 2022. Hinsichtlich der örtlichen Zuständigkeit bleibt es – wie für die bisherigen Verfahren gemäß Art. 21 Abs. 3 Brüssel IIa-VO – bei der Zuständigkeitskonzentration gemäß §§ 10, 12 IntFamRVG.
2. Privatscheidungen
Eine echte und für die Praxis bedeutsame Weiterentwicklung gegenüber der Brüssel IIa-VO enthält Kapitel IV Abschnitt 4 der Brüssel IIb-VO "Öffentliche Urkunden und Vereinbarungen". Mit diesen Vorschriften trägt der europäische Gesetzgeber dem Umstand Rechnung, dass inzwischen in einer zunehmenden Zahl von Mitgliedstaaten rechtsgeschäftliche Scheidungen ohne konstituierenden gerichtlichen oder behördlichen Akt möglich sind, und beseitigt dami...