Tagungsbericht zum 19. Göttinger Workshop zum Familienrecht
Im Koalitionsvertrag der Ampel-Koalition heißt es: "Wir werden das Institut der Verantwortungsgemeinschaft einführen und damit jenseits von Liebesbeziehungen oder der Ehe zwei oder mehr volljährigen Personen ermöglichen, rechtlich füreinander Verantwortung zu übernehmen." Voraussetzungen und Rechtsfolgen einer solchen Verantwortungsgemeinschaft blieben zunächst unklar. Vor allem aber war fraglich, welchen rechtstatsächlichen Regelungsbedarf die Verantwortungsgemeinschaft einmal adressieren sollte. Dem widmete sich der 19. Göttinger Workshop zum Familienrecht unter dem Titel "Verantwortung und Gemeinschaft in modernen Gesellschaften", der am 10.11.2023 stattfand. Der Göttinger Workshop zum Familienrecht bringt in regelmäßigen Abständen Vertreterinnen und Vertreter aus der Rechtswissenschaft, den Justizministerien, Gerichten, Kanzleien und Verbänden zusammen, um gemeinsam aktuelle Themen des Familienrechts zu diskutieren. Die verschriftlichten Vorträge werden in zugehörigen Tagungsbänden open access veröffentlicht. Der 19. Göttinger Workshop zum Familienrecht wurde von Prof. Dr. Philipp M. Reuß, MJur (Oxford) und Prof. Dr. Barbara Veit organisiert. Vor dem Hintergrund der Verantwortungsgemeinschaft widmete sich der Workshop der Frage, wie Verantwortung und Gemeinschaft jenseits von Ehe und "klassischer" Kleinfamilie in nichtehelichen Lebensgemeinschaften, Stief- und Queerfamilien oder in Altersgemeinschaften und sonstigen Wahlverwandtschaften gelebt und rechtlich erfasst werden oder de lege ferenda geregelt werden sollten.
I. Nachdem Reuß die Teilnehmerinnen und Teilnehmer begrüßt und in das Thema eingeleitet hatte, gab Gregor Dehmer, Bundesministerium der Justiz, Berlin, einen Impuls zur Geschichte der Verantwortungsgemeinschaft, in dem er den Weg von einer politischen Forderung zu konkreten, gesetzgeberischen Arbeiten nachzeichnete. Zunächst habe die Verantwortungsgemeinschaft Familien und Paarbeziehungen adressiert. Doch ein FDP-Antrag aus der 19. Legislaturperiode habe das Institut für Gemeinschaften jenseits von Kindern und Paarbeziehungen geöffnet. Diesen Antrag habe die Koalition aufgegriffen und folgende Ziele für die Verantwortungsgemeinschaft definiert: Sie solle gegenseitige Verantwortungsübernahme fördern, indem sie den Beteiligten die privatautonome Gestaltung ihrer persönlichen Beziehungen auf einer rechtssicheren Basis ermögliche. Dazu stelle sie verschiedene Stufen mit unterschiedlich intensiver rechtlicher Verantwortung zur Verfügung und solle auch de lege lata ausgeschlossene Rechtsfolgen zeitigen können. Auf das Abstammungs-, das Erb-, das Steuer- oder das Aufenthaltsrecht solle sie sich aber nicht auswirken.
II. Anschließend betrachtete Prof. Dr. Sabine Walper, Deutsches Jugendinstitut München, "Verantwortung und Gemeinschaft aus sozialwissenschaftlicher Perspektive". Sie unterschied drei grundlegende Formen der Verantwortung: Ethische Verantwortung aufgrund moralischer Prinzipien, rechtliche Verantwortung kraft Gesetzes und soziale Verantwortung durch Selbstverpflichtung oder soziale Zuschreibung. Sodann wandte sich Walper dem Begriff der Gemeinschaft zu. Gemeinschaft sei eine soziale Form, die um ihrer selbst willen bestehe. In Gemeinschaften übernähmen die Beteiligten gegenseitig Verantwortung, was Regelungen notwendig mache. Als Gemeinschaft "jenseits von Liebesbeziehungen" sei insbesondere die gemeinschaftliche Elternschaft unabhängig von einer Liebesbeziehung zwischen den Eltern (sog. Co-Elternschaft) hervorzuheben. Hierbei handele es sich um eine stark auf das Kind und sein Wohl ausgerichtete Lebensform, die zugleich durch rechtliche Unsicherheiten geprägt sei. Die wechselseitige Verantwortungsübernahme bei der Co-Elternschaft, aber auch bei nicht miteinander verheirateten Eltern im Allgemeinen sei zentraler Gegenstand einer sozialwissenschaftlich verstandenen Verantwortungsgemeinschaft.
III. Sodann untersuchte Prof. Dr. Anatol Dutta, MJur (Oxford), Ludwig-Maximilians-Universität München, "Das Konzept eines Instituts einer Verantwortungsgemeinschaft aus rechtsvergleichender Perspektive". Die Rechtsvergleichung trage als wissenschaftliche Methode dazu bei, dass geltende Recht fortzuentwickeln und kritisch zu reflektieren. Blicke man auf die Verantwortungsgemeinschaft, stoße man zuvörderst auf Nähebeziehungsregime, die auf die zunehmende Zahl faktischer Paarbeziehungen und die damit einhergehende "Ehedämmerung" reagierten. Teils seien diese Nähebeziehungsregime ehegleich, teils aber auch als "Ehe light" ausgestaltet. Zu denken sei insbesondere an den französischen pacte civil de solidarité (sog. PACS) oder die belgische cohabitation légale. Eine "Ehe light" berge immer die Gefahr, dass der oder die wirtschaftlich schlechter gestellte Partner oder Partnerin um den Schutz gebracht werde, den die Ehe als optimales Paarbeziehungsregime bei Beendigung der Beziehung gewähre. Außerdem seien gesetzliche Auffangregime für a...