Warum die geplante Familienstartzeit nicht weit genug geht
Väter sollen nach der Geburt ihres Kindes am Familienleben teilhaben können – auch in Form einer Elternzeit mit voller Bezahlung. So ist es im aktuellen Koalitionsvertrag vereinbart. Doch die Initiative von Familienministerin Lisa Paus, Vätern beziehungsweise Partnerin oder Partner der Mutter direkt nach der Geburt eines Kindes eine bezahlte Auszeit zu ermöglichen, ist politisch bisher kaum vorangekommen. Der Entwurf zur sogenannten Familienstartzeit befindet sich seit über einem Jahr in der Ressortabstimmung.
Die Folge: In vielen Familien bleibt es diesen Personen verwehrt, sich gezielter um ihre Kinder kümmern zu können. Ärgerlich, ist doch eine bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf ebenfalls in den EU-Richtlinien festgelegt. Ohnehin darf aus einer modernen HR-Perspektive kritisch hinterfragt werden, ob die hier vorgesehenen Maßnahmen ausreichend sind. Dieser Beitrag zeigt auf, wie Unternehmen intelligent in eine Vorreiterrolle drängen und moderne Arbeitsumgebungen gestalten können – über die geplanten gesetzlichen Maßnahmen hinaus.
Elternzeit als strategischer HR-Ansatz
In Deutschland ist die Unterstützung von Arbeitnehmenden während der Schwangerschaft und nach der Geburt eines Kindes im Gesetz verankert. Gesetzlich krankenversicherte Arbeitnehmerinnen erhalten sechs Wochen vor und acht Wochen nach der Entbindung Mutterschaftsgeld, das vom Arbeitgeber bis zur Höhe des bisherigen Nettolohns aufgestockt wird. Trotz dieser Regelungen bleibt die Ausgestaltung der Elternzeit und der damit verbundenen finanziellen Leistungen ein Diskussionspunkt. Das derzeitige Basiselterngeld, eine weitere staatliche Leistung, soll den Einkommensverlust nach der Geburt teilweise ausgleichen.
Eine Herausforderung für Familien ist dabei: Das Basiselterngeld erreicht häufig nicht die Höhe des regulären Einkommens. Mit Inanspruchnahme der Elternzeit entscheiden sich Eltern also in der Regel dafür, auf einen Teil ihres Einkommens zu verzichten, um ihr Kind zu betreuen. Weil flexible Arbeitszeitmodelle und bestehende gesetzliche Regelungen aktuell noch nicht ausreichen, gehen hier immer mehr Unternehmen eigene Wege. Zu nennen sind etwa Henkel, die Funke Mediengruppe, Vodafone, Novartis, Microsoft, Mastercard, Unilever oder die Kommunikationsberatung Ketchum Deutschland. Diese Firmen bieten bereits eine mehrwöchige bezahlte Familienzeit bei vollem Lohnausgleich an – sie stocken das Elterngeld von maximal 1.800 Euro auf die vollen, regulären Bezüge auf. Ketchum zum Beispiel hat diese voll bezahlte Elternzeit für acht Wochen als erste Agentur in Deutschland überhaupt eingeführt – und das sogar unabhängig von Geschlecht und Familienkonstellation. Also für wirklich alle.
Immer mehr Unternehmen bietet bezahlte Elternzeit an
Woher rührt das Engagement der Unternehmen? Wenn Mitarbeitende es wünschen, sollen sie sich in den ersten Wochen nach der Geburt oder Adoption ausschließlich auf das Wohl ihres Kindes konzentrieren können. Die Grundlage für ein solches Angebot bilden die gesetzlichen Regelungen zur Elternzeit. Ihre Arbeitgeber stehen ihnen zur Seite, unterstützen sie und weiten Maßnahmen und Förderungsstrukturen aus. Immer häufiger erkennen sie die vielfältigen Familienkonstellationen in der heutigen Gesellschaft an und bilden dies auch durch ihre HR-Maßnahmen ab. Der Ansatz von Ketchum beispielsweise ist es, jede Form von Elternschaft zu unterstützen, ganz gleich, ob es sich um Väter, Mütter oder eine andere Form der Elternschaft handelt – einschließlich derjenigen, die als Pflege- oder Adoptiveltern tätig sind. Auf diese Weise lässt sich die Vereinbarkeit von Beruf und Familie noch stärker aktiv fördern. Und Arbeitgeber zeigen ihre Wertschätzung gegenüber Menschen, die Verantwortung für ein Kind tragen.
Es tut gut zu beobachten, wie Unternehmen zunehmend erkennen, dass das Privatleben ihrer Mitarbeitenden einen direkten Einfluss auf deren Arbeit hat. Mit strategischen HR-Maßnahmen lässt sich etwa dem Klischee des symbolischen Obstkorbs als einzigem Benefit entgegenwirken. Am Ende sorgt ein solcher Ansatz zudem für bessere Recruiting-Bedingungen, höhere Mitarbeiterzufriedenheit und langfristigere Arbeitsbeziehungen – und das in jeder Branche.
Bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf
Die Entscheidung, voll bezahlte Elternzeit unabhängig von Geschlecht und Familienkonstellationen anzubieten, basiert auf der Überzeugung, dass Familie und Beruf vereinbar sein müssen. Ohne Wenn und Aber. Für beide Seiten – also Unternehmen und Mitarbeitende – schaffen diese Win-win-Situationen wertvolle Synergien: Eltern können sich in den ersten Wochen nach der Geburt oder Adoption ohne finanzielle Sorgen ganz ihren Kindern widmen, was nicht nur Zufriedenheitswerte fördert und eine bessere, langfristigere Bindung der Mitarbeitenden schafft. Unternehmen belegen damit auch, eng am Puls ihrer Belegschaft zu sein. Und sie zeigen, wie effizient und verhältnismäßig einfach eine bessere Vereinbarkeit von Beruf und Familie möglich ist. Aktuell können sich Unternehmen sogar als Vorreiter für Chancengerechtigkeit und -gleichheit in diesen Bereichen positionieren, kommen sie doch der politischen Umsetzung zuvor.
Doch bedauerlicherweise sehen noch nicht alle Unternehmen eigenen Handlungsbedarf für eine voll bezahlte Elternzeit. Auch die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA) hält die gesetzlichen Regelungen derzeit für ausreichend, eine zusätzliche finanzielle Belastung der Arbeitgeber sei nicht vertretbar. Diese Haltung stimmt nachdenklich, steht sie doch in deutlichem Widerspruch zu den dynamischen Veränderungen in der modernen Arbeitswelt. In einer Zeit, in der die Förderung von Chancengleichheit und -gerechtigkeit stetig an Bedeutung gewinnt, ist es entscheidend, dass Unternehmen die Bedürfnisse ihrer Mitarbeitenden antizipieren, ernst nehmen und entsprechend handeln.
Die Einführung einer voll bezahlten Elternzeit ist nicht nur eine Antwort auf den Wunsch nach einer besseren Vereinbarkeit von Familie und Beruf, sondern auch eine Reaktion auf den fortschreitenden Wandel der Arbeitsnormen und die zunehmende Akzeptanz verschiedener Familienmodelle. Investitionen in diesem Zusammenhang können den langfristigen Erfolg von Unternehmen sichern und für Standortvorteile sorgen.
HR und die Employer Journey
In HR wird der Human-Centric-Ansatz immer wichtiger. Unternehmen engagieren sich verstärkt für die Entwicklung und die Bedürfnisse aller Menschen über das Angestelltenverhältnis hinaus und positionieren sich ihnen gegenüber verstärkt. Der gesamtgesellschaftliche Fokus liegt auf den eigenen Teams, aber auch auf Kundinnen und Kunden, Stakeholder, Multiplikatoren und Multiplikatorinnen. Zentrale Rolle spielen dabei die Mitarbeitenden. Im Beispiel des Agenturalltags betreuen sie Kundinnen und Kunden, repräsentieren das Unternehmen und tragen wesentlich zum Umsatz bei. Jede und jeder Einzelne ist von unschätzbarem Wert für das Unternehmen – denn das lebt unmittelbar von deren individuellen Fähigkeiten und Engagement. Gelebte Wertschätzung sollte somit ein maßgeblicher Referenzwert und deutlich wahrnehmbar sein.
Regelmäßige direkte Gespräche und Mitarbeiterbefragungen helfen bei Ketchum etwa herauszufinden, was die Teams bewegt und welche Unterstützung sie erwarten. Eine Erkenntnis: Die Mitarbeitenden von Ketchum legen großen Wert auf Purpose, Diversity, Vielfalt, Chancengleichheit und Individualität. Sie erwarten, dass diese Werte nicht nur auf dem Papier stehen, sondern im Arbeitsalltag aktiv gelebt werden. Diversity, Equity und Inclusion (DE&I) sind Themen von Dauer, die immer wieder aufs Neue kreative und authentische Maßnahmen erfordern – sie können nicht mit einem einmaligen Aktionstag oder während des Pride Month "abgehakt" werden. Unternehmen, die sich die gesamte Employer Journey ansehen, verstehen, was für ihre Teams wichtig ist. Ketchum analysiert Touchpoints kontinuierlich, um zu ermitteln, wo und wie das Unternehmen aktiv unterstützen kann. Ob in Form von Benefits wie einem Jobrad, Hilfestellung bei der Kinderbetreuung oder der Möglichkeit, mobil zu arbeiten: All das hat geholfen, neue Talente zu gewinnen, eine starke Arbeitgebermarke aufzubauen und die Fluktuation zu senken.
Auszeichnungen stärken eine Arbeitgebermarke zusätzlich. Die öffentliche Anerkennung erhöht die Glaubwürdigkeit und das Vertrauen von potenziellen Bewerbern und Bewerberinnen, was wiederum talentierte Fachkräfte anzieht. Ketchum Germany ist zum Beispiel als einer der LGBTIQA+-freundlichsten Arbeitgeber Deutschlands anerkannt. Das steigert die Attraktivität und fördert die Loyalität und Zufriedenheit des Teams – internes Feedback bestätigt das.
Elternzeit und Unterstützung nicht traditioneller Familienmodelle
Die Rolle des HR-Bereichs verändert sich stetig. Der schnöde Personaler von früher ist heute digitaler Innovator, Talentmanager, Kulturmanager und strategischer Berater. Moderne HR-Strategien und -Konzepte entlang der Employee Journey orientieren sich am Prinzip "People First" und zielen darauf ab, Mitarbeitende in jeder Karrierephase optimal zu unterstützen und sicherzustellen, dass sich das Team am Arbeitsplatz wohlfühlt.
Vermehrt Aufmerksamkeit verdient die Unterstützung von nicht traditionellen Familienkonstellationen, die in einigen rechtlichen Aspekten noch immer benachteiligt sind. So müssen gleichgeschlechtliche Partnerinnen, die eine künstliche Befruchtung planen, die Kosten selbst tragen, während heterosexuelle Paare häufig finanzielle Unterstützung erhalten. Auch das Adoptionsverfahren ist in Deutschland oft langwierig und nervenaufreibend. Hinzu kommt die finanzielle Belastung, da Adoptiveltern ausschließlich vom Elterngeld, aber nicht vom Mutterschaftsgeld profitieren. Bei Pflegefamilien greift sogar nur das noch niedrigere Pflegegeld. Eine adäquate Unterstützung in diesen Bereichen hilft Familien, ein ausgeglichenes Privatleben zu führen und sich dadurch während der Arbeitszeit besser auf die Aufgaben konzentrieren zu können.
Wiedereinstieg nach der Elternzeit
Bei Ketchum Deutschland wird die Möglichkeit der Elternzeit schon länger von werdenden Eltern in Anspruch genommen. Damit jedoch auch angehende Väter, Partner und Partnerinnen dieses Angebot annehmen, ist entscheidend, dass eine solche Elternzeit im Kollegenkreis akzeptiert und gelebte Praxis ist. Flexible Arbeitszeitmodelle wie Mobile Working, Workation und Sabbaticals erleichtern die Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben und tragen dazu bei, den Wiedereinstieg nach der Pause zu organisieren. Kooperationen mit Partnerunternehmen wie Voiio und Hey-Nanny, zum Beispiel für bezuschusste Kinderbetreuung oder kostenfreie Nachhilfe, aber auch professionelle, therapeutische Unterstützung in schwierigen Lebenssituationen sowie Coaching-Angebote stehen den Mitarbeitenden der Agentur kostenfrei bereit.
In einer Zeit, in der das Wohlbefinden der Mitarbeitenden zunehmend als Schlüssel zum Unternehmenserfolg anerkannt wird, müssen Arbeitgeber nicht nur als Wirtschaftsakteure, sondern auch als soziale Innovatoren agieren. Durch proaktive Maßnahmen zur Förderung der Work-Life-Balance steigern Unternehmen die Zufriedenheit und Produktivität ihrer Teams und setzen zudem positive Impulse für die Gesellschaft als Ganzes.
Dieser Beitrag ist erschienen in Personalmagazin 7/2024. Als Abonnent haben Sie Zugang zu diesem Beitrag und allen Artikeln dieser Ausgabe in unserem Digitalmagazin als Desktop-Applikation oder in der Personalmagazin-App.
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