A. Der Faktor Zeit in Kindschaftssachen
Der Faktor Zeit findet nunmehr in Kindschaftssachen des FamFG – wie noch zu zeigen ist nicht nur in § 155 FamFG – eine gesetzliche Verankerung. Seit "längerer Zeit", wenn wir es genau nehmen seit 1980, finden sich im Kindschaftsrecht, seit 1991 im SGB VIII, zunehmend Elemente, die dem Zeitfaktor in der Gesetzgebung mehr oder überhaupt erstmals Aufmerksamkeit schenken. Diese Entwicklung ist alles andere als abgeschlossen, wahrscheinlich stehen wir erst an ihrem Anfang. Das Verfahrensrecht schien lange von diesen Entwicklungen unberührt geblieben zu sein. Erst durch das "Gesetz zur Erleichterung familiengerichtlicher Maßnahmen bei Gefährdung des Kindeswohls", welches am 12. Juli 2008 in Kraft gesetzt worden war, wurde es mit dem Vorrang- und Beschleunigungsgebot ernst, da es bereits in § 50e FGG (schon wortgleich mit § 155 FamFG) Aufnahme fand.
B. Kindliches Zeitempfinden und das Rechts- staatspostulat: "Justice delayed is justice denied"
Zwei Stränge hat diese unaufhaltsame Entwicklung: Einerseits treffen wir seit den siebziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts auf eine wachsende Anzahl von Rechtsordnungen, welche die vom Autorenteam Goldstein/Freud/Solnit angestoßene Forderung nach einer Berücksichtigung des kindlichen Zeitempfindens im materiellen, also im Familienrecht, aber auch im Sozialrecht und schließlich in den Verfahrensordnungen für die Gerichte aufgreifen, andererseits findet unter Hinweis auf das Rechtsstaatspostulat eine grundsätzliche Debatte um "Gerechtigkeit in der Zeit" statt, die vom BVerfG ebenso wie vom EuGHMR mit Nachdruck intensiviert wird. Die fundamentale, zugleich banale Aussage "justice delayed is justice denied" – dieser (Grund-)Satz ungeklärter Provenienz (als Quellen werden Gladstone, Penn, aber auch die Magna Charta genannt: "to no one will we refuse or delay, right or justice") – findet sich schon in einer Entscheidung des BVerfG aus dem Jahre 1980 (BVerfGE 55, 349/369): Es geht um die Forderung nach "Rechtsschutz in angemessener Zeit". Die Bedeutung von "Zeit im Recht" ist angesichts der Bedeutung von Zeit als einem der wichtigsten menschlichen Orientierungsmittel ein nur wenig überraschender Befund. Dass Gerechtigkeit in der Zeit verfehlt werden kann, gehört zu den weltweit diskutierten – und bisher kaum oder anscheinend nicht lösbaren – Problemen von Justiz auch zu Beginn des 21. Jahrhunderts.
C. Aussagen der Sozial- und Humanwissenschaften – Konsequenzen
Das Zivilrecht weist zahlreiche Zeitbezüge etwa im Vermögensrecht auf (Verjährung, Ersitzung). Das Familienrecht ist wahrscheinlich das am intensivsten ausgeformte Dauerrechtsverhältnis; hier hat das Zeitelement zahlreiche Auswirkungen, auf die, weil wir uns auf das Kindschaftsrecht konzentrieren, nicht näher eingegangen werden soll. Warum hat das Zeitelement eine solche Durchschlagskraft, dass es in den bereits genannten Regelungsbereichen des Kindschafts-, Sozial- und Verfahrensrechts diese anwachsende Berücksichtigung findet? Die Aussagen der Sozial- und Humanwissenschaften zu Bindung und Trennung im frühen Kindesalter, zu Stresserleben und Traumatisierung und über die Folgen von Instabilität und Diskontinuität in der Sozialisation haben einen so hohen Grad von Übereinstimmung und Homogenität erreicht, dass sie schon längst den Anforderungen an Qualität und Maßstabswirkung entsprechen, wie sie für den Transfer in rechtliche Handlungsstrategien für erforderlich gehalten werden. Diese fundamentalen Erkenntnisse werden bis in die jüngste Zeit immer besser abgesichert und ernsthaft von keiner der "Schulen" bestritten oder infrage gestellt: Es ist allgemeine und durch die Gehirnforschung erst jüngst bestätigte Erfahrung, dass Kleinkinder wesentlich verletzlicher auf Veränderungen in ihren Beziehungen als ältere Kinder und Erwachsene reagieren und dass es für jüngere Kinder eine Katastrophe bedeutet, wenn sie von ihren Hauptbezugspersonen getrennt werden und aus ihrer vertrauten Umgebung gerissen werden. Es wird zugleich belegt, dass sequenzielle Schädigungen durch frühkindliche Traumata (zumeist im elterlichen Haushalt), die inzwischen mit bildgebenden und biogenetischen Verfahren nachgewiesen werden können, sich tief ins Gehirn "eingebrannt" haben. Dass traumatische Erlebnisse in der frühen Kindheit – Misshandlung, Vernachlässigung oder sexueller Missbrauch – das Depressionsrisiko von Menschen zeitlebens erhöhen, ist aus epidemiologischen Studien bekannt. Die junge Wissenschaft der Epigenetik erklärt jetzt endlich, wie diese prägenden Einflüsse dauerhaft Spuren in Körper und Geist hinterlassen. Sie verändern molekularbiologische Strukturen, die wie Schalter an den Genen sitzen und darüber wachen, ob ein Gen aktiv werden kann oder nicht. Der hier Minderjährigen gegenüber durch besondere Schutzpflichten gebundene Staat wird durch diese humanwissenschaftlichen Erkenntnisse zur Tätigkeit gezwungen. Bei aller Vorsicht läs...