Die Zielsetzung des Normgebers, umfassenden Kinderschutz zu gewährleisten durch Stärkung der Kinderrechts im Verfahren, ist uneingeschränkt zu begrüßen.
Gestatten Sie mir allerdings, die praktische Ausgestaltung und Reichweite dieser Gesetzesänderung einem kritischen Blick zu unterwerfen.
Eine "Soll-Vorschrift" für das Formerfordernis der Kindesanhörung in der Beschwerdeinstanz hätte ausgereicht, der Gesetzgeber ist hier meiner Meinung nach über das Ziel hinausgeschossen und riskiert in manchen Fällen eine nicht notwendige Belastung des Kindes. Die Verschärfungen für Fälle des Personensorgerechtsentzugs nach §§ 1666, 1666a BGB, des Umgangsausschlusses sowie der Verbleibensanordnung in der zweiten Instanz lassen die gute Absicht des Kinderschutzes durch abstrakte Formerfordernisse erkennen, missachten aber teilweise die gerichtliche Praxis und waren vor allem aus verfassungsrechtlichen Gründen nicht erforderlich. Zum einen widerspricht die nun normierte Pflicht, in den genannten Fällen immer eine Kindesanhörung im Beschwerdeverfahren durchzuführen, dem Beschleunigungsgrundsatz des FamFG für Kindschaftsverfahren, zum anderen nimmt sie keinerlei Rücksicht auf das kindliche Zeitempfinden und kann daher zu auch schwerwiegenden Fehleinschätzungen führen.
Zum Beispiel vermag ein schwer vernachlässigtes Kind mit Langzeitfolgen für die physische und psychische Entwicklung in erster Instanz sich bei der Anhörung an alles erinnern, weil es unmittelbar nach der Herausnahme aus der Familie richterlich angehört wurde. Im Regelfall – und so sollte es auch sein – zeigt sich dieses Kind nach circa einem halben Jahr in einer Pflegefamilie im geförderten und gut versorgten Zustand bei der Anhörung vor dem Oberlandesgericht. Aufgrund des gesunden Mechanismus, dass vor allem jüngere Kinder im Regelfall das negative Erleben der Vergangenheit über den Zeitablauf hinweg verdrängen, kann es hier vor dem Beschwerdegericht problematisch werden, den Grund für den Sorgerechtszug noch revisionssicher festzustellen.
Darauf hinzuweisen ist auch auf Folgendes: Wenn vor dem Amtsgericht umfassend ermittelt wurde, die Kindesanhörung inhaltlich präzise erfolgte und eine Abänderung für das Beschwerdegericht aus keinem rechtlichen Grund ersichtlich ist, warum sollte die Kindesanhörung dann in einer Dreierbesetzung wiederholt werden? Anders ist dies selbstverständlich zu bewerten, wenn der erkennende Senat eine Abänderung der Erstentscheidung für erforderlich hält.
Diese ausnahmslos notwendige nochmalige Kindesanhörung in der zweiten Instanz und der gesetzliche Zwang zur Dreierbesetzung bei der Anhörung kann eine Belastung des Kindes verstärken, öffnet zur Querulation neigenden Sorgeberechtigten die Möglichkeit, über das Ausreizen von Formvorschriften die Verfahren zu prolongieren. So wird das Kind indirekt wieder zum Objekt des Verfahrens.
Dennoch: Auch wenn so mancher Familienrichter und so manche Familienrichterin an Amts- und Oberlandesgerichten Zweifel darüber äußert, ob zum Beispiel der Blick auf ein schlafendes Baby in einem Kinderwagen vor dem Sitzungszimmer aussagekräftig für das Verfahren ist oder ob Kinder mehrfach durch die Instanzen anzuhören sind, so hat sich doch jede/r an diese zwingende gesetzliche Regelung zu halten.
Autor: Ulrike Sachenbacher, weitere aufsichtführende RiAG München, Kompetenzpartnerin Kinderschutz des OLG-Bezirks München
FF 9/2022, S. 343 - 349