Interview mit Prof. Dr. Kathinka Beckmann, FB Sozialwissenschaften, Hochschule Koblenz
Prof. Dr. Kathinka Beckmann
Schnitzler/FF: Das Bundesministerium für Justiz und Verbraucherschutz hat am 1.7.2020 im Zusammenhang mit den Missbrauchsfällen in den letzten Monaten eine Pressemitteilung herausgegeben und außerdem einen Maßnahmenkatalog beschlossen. Hierbei interessiert mich weniger die strafrechtliche Seite, die sich im Wesentlichen mit der Einordnung der unfassbaren Straftaten als Verbrechen, statt bisher Vergehen, beschäftigt. Interessant ist vor allem der zweite Teil, der sich mit der Ausbildung von Richtern, Verfahrensbeiständen usw. beschäftigt.
Was halten Sie von diesem Maßnahmenkatalog?
Beckmann: Ich begrüße diesen sehr, da er den Blick auf die meist schwer traumatisierten Kinder richtet. Eine Qualifizierungsoffensive für die beteiligten RichterInnen und StaatsanwältInnen ist ein wichtiger Schritt, das Verfahren insgesamt einfühlsamer und damit weniger belastend für die Kinder zu gestalten.
Den Vorschlag, auf der Landesebene jeweils Unabhängige Missbrauchsbeauftragte einzuführen, würde ich allerdings gerne in Richtung einer oder eines Kinderbeauftragten an sich umwandeln: Grundsätzlich vertrete ich die Ansicht, dass wir zumindest im Kinder- und Jugendhilfebereich mit dem SGB VIII eine gute Gesetzeslage haben, aber niemanden, der oder die darauf achtet, dass eben diese Gesetze auch im Interesse der Kinder umgesetzt werden.
Schnitzler/FF: Offenkundig stehen die Jugendämter gerade im Zusammenhang mit Missbrauchsfällen erheblich unter Beobachtung.
Was kann aktuell auch bei den Jugendämtern vorrangig verbessert werden?
Beckmann: Insgesamt ist es notwendig, auch in den Teams der ASD – also in der Abteilung im Jugendamt, die für den Kinderschutz zuständig ist – eine Haltung zu kultivieren, dass Gewalt gegen Kinder auch in Deutschland existiert und zwar jeden Tag und in jedem familiären Milieu und sowohl in ländlichen Gegenden als auch städtischen Ballungsräumen. Der Blick auf das Hellfeld kindlicher Gewaltopfer spricht eine deutliche Sprache: Im Jahr 2019 starben laut PKS 112 Kinder meist im häuslichen Umfeld, bei 4.100 ist eine Misshandlung attestiert und bei 15.936 Kindern ist sexuelle Gewalt angezeigt worden; im Bereich Kinderpornografie sind 12.262 Fälle ermittelt worden. Erst wenn ich dieses Ausmaß kenne und das dahinterstehende 1000-fache Dunkelfeld für möglich halte, bin ich als pädagogische Fachkraft bereit, nach Anzeichen dafür zu suchen und hinterfrage Familiendynamiken anders. Daneben brauchen wir eben auch eine Qualifizierungsoffensive in den Jugendämtern, da es bis heute in nur ganz wenigen Studiengängen der Sozialen Arbeit Pflichtmodule im Kinderschutz gibt. Anders formuliert: Viele der ASD-Fachkräfte können keine Profis im Erkennen von kindlichen Alarmsignalen oder auch TäterInnenstrategien sein, da ihnen dieses Wissen im Studium nicht vermittelt wurde.
Eine Lösung, die einige ASD für sich gefunden haben, ist innerhalb der Abteilung einen sogenannten Krisen- oder Kinderschutzdienst zu installieren, in dem fortgebildete KollegInnen die sozialpädagogische Falleinschätzung vornehmen und für schwierige Dialoge mit den Kindern und ihren Eltern geschult sind.
Schnitzler/FF: Sie haben 2018 eine umfangreiche Studie zu dem Allgemeinen Sozialen Dienst (ASD) verfasst. Diese Studie ist vor allem deshalb von Interesse, weil Sie sich nicht mit der Leitungsebene beschäftigen, sondern mit den Mitarbeiterinnen und Mitarbeiterin, die an der Front tätig sind.
Welche Erkenntnisse sind aus der Studie zu ziehen?
Beckmann: In aller Kürze kann man sagen, dass vielen Fachkräften in ihren Teams vor allem vier Elemente fehlen: Zeit fehlt häufig im direkten Kontakt mit den Kindern und ihren Eltern. Dieser Zeitmangel steht oft in Verbindung mit einer hohen Fallzahlbelastung bzw. der zu knappen Personalausstattung im ASD sowie eines gestiegenen Dokumentationsaufwands, dessen Sinn von vielen in Frage gestellt wird. Raum fehlt vielerorts buchstäblich, da einem Drittel der befragten Fachkräfte kein eigenes Büro zur Verfügung steht und oft kein Ausweichraum als Besprechungs- oder Beratungszimmer vorhanden ist. Das erschwert die Kommunikation mit den AdressatInnen erheblich und widerspricht den Grundsätzen professioneller Gesprächsführung im geschützten Setting. Neben Räumen fehlt es oft auch an Diensthandys und Laptops – ein Umstand, der in der Corona-Krise deutlich zu Tage trat, da viele Fachkräfte im Homeoffice aufgrund der mangelnden Ausstattung nicht arbeitsfähig und damit nicht erreichbar für die Kinder und ihre Familien waren. Daneben fehlt Wissen über strukturelle Verflechtungen des eigenen Arbeitgebers "Jugendamt" in die lokale Sozial- und Haushaltspolitik, was wiederum Lösungsansätze aus der Praxis behindert. Erfahrung ist in den meisten Teams vorhanden – allerdings stellt sich die Frage, wie die im besten Sinne routinierten KollegInnen den Berufseinsteigenden angesichts der oft diffizilen Einarbeitungssituation ihre Erfahrungen wei...