Welche Möglichkeiten gibt es in unserem Fallbeispiel?
Ruft F das englische Gericht an – das für die Scheidung schon nach Art. 3 Abs. 1 Buchstabe a, 2. Anstrich der Brüssel IIa-Verordnung (letzter gemeinsamer gewöhnlicher Aufenthalt der Ehegatten) international zuständig ist, für den Unterhalt nach Art. 5 Nr. 2 Brüssel I-Verordnung und für die Regelung der güterrechtlichen Verhältnisse der Ehegatten ob seines nationalen Rechts –, so könnte sie Millionenbeträge erstreiten: Das gemeinsame Haus, unter Umständen lebenslangen Unterhalt usw.; denn der englische Richter wendet sein eigenes internationales Privatrecht an – dieses verweist auf die lex fori. Der für F ungünstige Ehevertrag könnte leicht vom englischen Gericht außer Acht gelassen werden, vor allem, wenn F bei dessen Abschluss nicht eigenständig rechtlich vertreten war (das ist in unserem Fall ja durchaus nicht unwahrscheinlich … ). Den englischen Richter wird es nach seinem Recht auch weniger kümmern, ob die Vermögensgegenstände des Mannes vor oder erst während der Ehe erworben oder beispielsweise von ihm ererbt wurden. Es ist sehr wahrscheinlich, dass die Vermögenswerte einfach verteilt werden; 1/3 davon für F sollte drin sein, wenn sie Glück hat, noch mehr.
Ist M schneller – oder versteht der Rechtsanwalt von F nichts vom Internationalen Familienrecht – und wird das französische Gericht angerufen (die internationale Zuständigkeit folgt hier aus Art. 3 Abs. 1 Buchstabe b der Verordnung: gemeinsame Staatsangehörigkeit der Ehegatten), wird F aus ihrem Traum, von "ihrem" Richter werde sie ja wohl gut bedient werden, böse erwachen. Internationale Familienrechtsstreitigkeiten sind keine Fußballspiele; es gibt grundsätzlich keinen Heimvorteil. Der französische Richter hat nach seinem eigenen Internationalen Privatrecht ob der gemeinsamen französischen Staatsangehörigkeit der Ehegatten französisches Sachrecht – auf die Scheidung wie auch auf die vermögensrechtlichen Folgesachen – anzuwenden. In Frankreich wird der Ehevertrag regelmäßig Bestand haben – mit den für F nachteiligen Folgen, die ich Ihnen nicht ausmalen muss.
Ich hoffe, ich habe anschaulich genug gemacht, warum ich meinen Vortrag mit "Haftungsfalle forum shopping" überschrieben habe.
Durch diesen ersten Beispielsfall schimmerte schon eine Prüfungsreihenfolge hindurch, die in Fällen mit grenzüberschreitenden Bezügen gewährleistet, keine wichtige Frage zu übersehen:
Eva Becker
Dieses Schema trägt in den Hauptpunkten der logischen richterlichen Prüfungsreihenfolge – internationale Zuständigkeit, anzuerkennende ausländische Entscheidung, anwendbares Recht – Rechnung und in den – jeweils identischen – Unterprüfungspunkten dem Umstand, dass die EG-Verordnungen in den Verordnungsmitgliedstaaten unmittelbar und vorrangig vor jeglichem nationalen Recht anzuwenden sind, also auch vor völkerrechtlichen Übereinkommen. Diese wiederum verdrängen in ihrem Anwendungsbereich grundsätzlich die jeweiligen nationalen Normen der Vertragsstaaten. All dies zeigt sich auch in § 97 FamFG und in Art. 3 EGBGB n.F.
Dies führt dazu, dass wir nationale Reflexe bekämpfen und uns immer fragen müssen, ob der konkrete Fall, an dem wir gerade arbeiten, nach nationalem Recht gelöst werden darf oder ob wir – vorrangig – eine EG-Verordnung oder ein völkerrechtliches Abkommen anzuwenden haben.
Freilich ist darauf zu achten, das Schema in Familiensachen auch bezüglich jedes Teilbereichs gesondert zu durchlaufen. Es gibt nur sehr begrenzt Verbundzuständigkeiten. Gibt es keine, so muss bezüglich jedes Verfahrensgegenstandes – etwa Scheidung, elterliche Sorge, Unterhalt, Güterrecht – einzeln geprüft werden, ob und ggf. welche internationale Rechtsquelle einschlägig ist. Wird dies nicht berücksichtigt, landet man schnell bezüglich einer Folgesache beim falschen Gericht oder berät den Mandanten auf der Grundlage eines falschen materiellen Rechts und hat so wieder die Haftung am Bein.
Insoweit möchte ich Sie bezüglich der bilateralen völkerrechtlichen Übereinkommen besonders auf ein altes Abkommen hinweisen, das sowohl bezüglich des Scheidungsstatuts als auch des Sorge- und Umgangsrechts und bezüglich des Unterhalts- und Güterrechts Geltung beansprucht und häufig übersehen wird, also haftungsrelevant ist: Das Deutsch-Iranische Niederlassungsabkommen vom 17. Februar 1929. Diesem zufolge bestimmt sich – vorbehaltlich des stets zu beachtenden ordre public-Vorbehalts – das anwendbare Sachrecht vorrangig nach der gemeinsamen Staatsangehörigkeit der Parteien. Leben also zwei Iraner in Deutschland, richten sich ihre Scheidung und die Folgesachen grundsätzlich nach iranischem Recht.
Die Prüfung, ob eine anzuerkennende ausländische Entscheidung vorliegt, ist ebenfalls von Bedeutung, weil dies den materiellen Entscheidungsmaßstab berühren kann: Ist etwa in einem Sorgerechtsverfahren eine früher ergangene ausländische Sorgerechtsentscheidung anzuerkennen, so liegt ein Abänderungsfall vor, der dem strengeren Maßstab des § 1696 BGB unterfällt.
All die...