Die Satzungsversammlung hätte, als sie in Konsequenz der Sozietätswechsler-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts § 3 BORA änderte und die neuen Sätze 2 und 3 von Abs. 2 schuf, nach "A" eigentlich auch "B" sagen müssen. Unabhängig davon, dass es sich bei dem Verbot der Vertretung widerstreitender Interessen um eine der "core values" der deutschen Anwaltschaft handelt, ist die Ungleichbehandlung von Einzelanwälten und Anwälten in Zusammenschlüssen gleich welcher Art und Größe, die die Neufassung von § 3 BORA geschaffen hat, dogmatisch nicht hinnehmbar. Es ist nicht einzusehen, warum es zwar dem Einzelanwalt, nicht aber der aus den Rechtsanwälten A und B bestehenden Zweiersozietät verwehrt sein soll, (unter der Voraussetzung, dass Belange der Rechtspflege nicht tangiert sind) zwei Parteien mit widerstreitenden Interessen zu vertreten. Die Einschränkungen, die die Satzungsversammlung in der "amtlichen Begründung", mit der die neue Norm zur Genehmigung an das Bundesjustizministerium übermittelt wurde, formuliert hat (kein gemeinsamer Blick in die "abendlichen Faxeingänge", chinese walls, möglichst Kanzleien an verschiedenen Standorten), sind "fromme Wünsche", die mit der Lebenswirklichkeit und vor allem mit dem Wortlaut von § 3 Abs. 2 S. 2 BORA wenig zu tun haben. Der Wortlaut und das unklare Postulat der "Belange der Rechtspflege", die nicht entgegenstehen dürfen, geben für die einschränkende Interpretation, die die Satzungsversammlung der Norm im Nachhinein beimessen wollte, nichts her. Nachdem die "Büchse der Pandorra" nun einmal geöffnet wurde, kann auch dem Einzelanwalt ihre Verwendung nicht verwehrt bleiben.
Viele Auseinandersetzungen mit dem Thema Interessenkollision leiden im Übrigen darunter, dass die Frage nach der objektiven oder subjektiven Interessenbestimmung und der Beachtlichkeit des Einverständnisses miteinander verquickt werden oder dass nicht scharf genug zwischen einer Interessenkollision und einer möglichen Verletzung der anwaltlichen Schweigepflicht getrennt wird.
Auch Hartung entgeht in seinem vorerwähnten Aufsatz diesen Fallen nicht. Wenn er behauptet, der Anwalt habe den Prozessstandschaftler im entgegengesetzten Interesse des volljährig gewordenen Kindes vertreten, setzt er sich in Widerspruch zu der gerade vorher noch vertretenen Auffassung, dass es bei der Bestimmung des Interesses auf die "Bewertung des Mandanten" ankomme. Der Elternteil, bei dem das Kind bisher gelebt hat und nach Eintritt der Volljährigkeit nach wie vor lebt, wird selbst sicher nicht der Auffassung sein, seine Interessen und die des Kindes (dessen Bestes er will) seien widerstreitend. Im Gegenteil hatten und haben er und das Kind ein gemeinsames Interesse daran, dass der andere Elternteil so viel wie möglich zahlt. Es ist ja auch keineswegs so, dass der Elternteil, bei dem das Kind gelebt hat und lebt, bis zum Eintritt der Volljährigkeit keinen Unterhalt geleistet hätte. Es wurde lediglich kein Barunterhalt, sondern Naturalunterhalt geleistet, der in seiner Wertigkeit gerade nicht hinter dem Barunterhalt zurücksteht. Und in den von Hartung gar nicht beleuchteten Fällen des § 1629 Abs. 1 S. 3 und Abs. 2 S. 2 BGB, nämlich der Situation, dass der allein sorgeberechtigte und/oder betreuende Elternteil nicht im eigenen Namen, sondern im Namen des Kindes tätig geworden ist, lagen ursprünglich gleichgerichtete und – Leistungsfähigkeit des anderen Elternteils vorausgesetzt – nicht konkurrierende Interessen vor. Wird das Kind volljährig, ändern sich die sonstigen Verhältnisse aber nicht, bleibt es letztlich beim Vorliegen gleichgerichteter, nicht konkurrierender Interessen.
Nach der hier vertretenen Auffassung liegt also schon gar kein Interessenwiderstreit vor. Und wollte man diesen bei einer rein objektiven Bestimmung der Interessen annehmen, ist jedenfalls von einem Einverständnis der Parteien mit der Vertretung durch denselben Rechtsanwalt auszugehen, an dessen Wirksamkeit allerdings hohe Anforderungen zu stellen sind.