GG Art. 103 Abs. 1, BVerfGG § 22 Abs. 2 § 23 Abs. 1 S § 32 Abs. 1 § 92

Leitsatz

1. Geht das Fachgericht in seiner Entscheidung über eine Anhörungsrüge trotz vorgebrachter Anhaltspunkte nicht auf eine – drohende – Trennung der Kinder von der Hauptbezugsperson durch das Jugendamt ein und berücksichtigt es damit auch nicht die Rechtsprechung des EGMR zur Kindeswohlprüfung bei Trennung eines Kindes von seiner Hauptbezugsperson, so ist eine entscheidungserhebliche Verletzung des rechtlichen Gehörs gemäß Art. 103 Abs. 1 GG möglich.

2. Im Rahmen der gebotenen Folgenabwägung wiegen die Nachteile, die im Falle des Erlasses der einstweiligen Anordnung drohen, weniger schwer als die durch das Fortdauern der Trennung der – knapp zweijährigen – Kinder von ihrer Hauptbezugsperson drohende erhebliche Kindeswohlbeeinträchtigung, die sich im Falle der Versagung des Erlasses der einstweiligen Anordnung realisieren könnte.

(red. LS)

BVerfG, Einstweilige Anordnung v. 7.9.2022 – 1 BvR 1654/22 (OLG Oldenburg)

Aus den Gründen

Gründe: I. [1). Die Beschwerdeführerin zu 1), geboren im Jahr 1964 und deutsche Staatsangehörige und der Beschwerdeführer zu 2), geboren im Jahr 1989 und lettischer Staatsbürger, heirateten ausweislich ihrer mit einer Apostille des ukrainischen Justizministeriums versehenen Heiratsurkunde am 2.10.2019 in Kiew. Am 25.9.2020 wurden in Kiew Zwillinge geboren. Die Kinder haben ausweislich einer Bescheinigung des lettischen Konsulats in Berlin vom 30.9.2021 wie der Beschwerdeführer zu 2) die lettische Staatsangehörigkeit und ihre am 6.10.2020 in Kiew ausgestellten, mit Apostillen des ukrainischen Justizministeriums versehenen, Geburtsurkunden weisen den Beschwerdeführer zu 2) als Vater und die Beschwerdeführerin zu 1) als Mutter aus. Am 7.10.2020 bescheinigte das Amt für Staatsbürgerschaft und Migration der Republik Lettland auf Antrag, dass die Kinder im lettischen Personenstandsregister und dass die Beschwerdeführenden als Mutter beziehungsweise Vater eingetragen seien. Der Beschwerdeführer zu 2) lebt aktuell in Großbritannien und hat der Beschwerdeführerin zu 1), die mit den Kindern in Deutschland lebt, per notarieller Urkunde vom 8.10.2020 eine für drei Jahre gültige umfassende Sorgerechtsvollmacht für die Kinder erteilt.

[2] 2. Nachdem die Gemeinde des Wohnortes der Beschwerdeführerin zu 1) die Eintragung der Kinder in das Melderegister verweigert und das Jugendamt auf die ungeklärten Umstände der Geburt hingewiesen hatte, beantragte das Jugendamt beim Familiengericht, für die Kinder eine Amtsvormundschaft einzurichten und die elterliche Sorge auf das Jugendamt zu übertragen. Denn die Zwillinge hielten sich ohne Personensorgeberechtigten oder Erziehungsberechtigten in Deutschland auf. Die Beschwerdeführerin zu 1) habe ihre Mutterschaft nicht durch einen vollständigen Geburtsregisterauszug nachgewiesen. Da weder Mutterpass noch Krankenhausrechnungen vorlägen und die Beschwerdeführerin zu 1) bei der Geburt bereits 56 Jahre alt gewesen sei, könne der Verdacht einer Leihmutterschaft in der Ukraine nicht ausgeschlossen werden. Nach einem Hausbesuch bei der Beschwerdeführerin zu 1) kam das Jugendamt zu dem Schluss, dass keine Kindeswohlgefährdung durch sie vorliege.

[3] 3. Im Verfahren vor dem Familiengericht verweigerte die Beschwerdeführerin zu 1) weitere Angaben zu den Umständen der Geburt der Kinder. Die Konsularabteilung der lettischen Botschaft in Berlin erklärte schriftlich, dass die lettischen Behörden bei der Ausstellung der Bescheinigung der Staatsangehörigkeit der Kinder keinen Grund gesehen hätten, die in der Ukraine ausgestellten Geburtsurkunden in Frage zu stellen. Die Verfahrensbeiständin bestätigte eine enge Bindung der Kinder zu der Beschwerdeführerin zu 1).

[4] Mit Beschl. v. 29.11.2021 wies das Familiengericht die Anträge des Jugendamts zurück. Dagegen legte das Jugendamt Beschwerde ein. Weder die lettische Registrierung noch die ukrainische Geburtsurkunde stellten Entscheidungen im Sinne von § 108 Abs. 1 FamFG dar. Auch nach dem lettischen Recht wäre der Beschwerdeführer zu 2) nur Vater, wenn die Beschwerdeführerin zu 1) die Kinder geboren hätte. Dies sei gerade nicht erwiesen. Im Sinne des Kindeswohls sei eine unverzügliche sorgerechtliche Zuordnung neben einer abstammungsrechtlichen Klärung vorzunehmen. Die lettischen Behörden hätten im Übrigen die Vaterschaftsbescheinigung nur ausstellen dürfen, wenn der Beschwerdeführer zu 2) in Lettland seinen Aufenthaltsort und Wohnsitz hätte.

[5] 4. a) In einem Beschl. v. 16.5.2022 wies das Oberlandesgericht darauf hin, dass es die Beschwerde überwiegend für zulässig und begründet halte.

[6] Nach Art. 24 Abs. 1 S. 1 EGBGB unterliege die Regelung der Vormundschaft dem Recht des Staates, dem der Mündel angehöre. Vorgehende Regelungen der Europäischen Union bestünden nicht. Auch nach Art. 3c, Art. 5 Abs. 1, Art. 15 Abs. 1 des Haager Kinderschutzübereinkommens (KSÜ) sei für vormundschaftliche Maßnahmen der Vertragsstaat zuständig, in dem das Kind seinen gewöhnlichen Aufenthalt habe, und anzuwe...

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