GG Art. 2 Abs. 1, Abs. 2 S. 1 Art 6 Abs. 2 S. 2, BVerfGG § 93c Abs. 1 S. 1 § 94 Abs. 3
Leitsatz
1. Die Schutzpflicht nach Art. 2 Abs. 1 und Abs. 2 S. 1 i.V.m. Art. 6 Abs. 2 S. 2 GG gebietet dem Staat im äußersten Fall, das Kind von seinen Eltern zu trennen oder eine bereits erfolgte Trennung aufrechtzuerhalten. Ob die Trennung des Kindes verfassungsrechtlich zulässig und zum Schutz der Grundrechte des Kindes verfassungsrechtlich geboten ist, hängt regelmäßig von einer Gefahrenprognose ab.
2. Hält das Gericht eine Trennung des Kindes von den Eltern nicht oder nicht mehr für erforderlich, obwohl Anhaltspunkte dafür bestehen, dass das Kind bei einem Verbleiben in der Familie oder bei einer Rückkehr dorthin in seinem körperlichen, geistigen oder seelischen Wohl nachhaltig gefährdet ist, hält die Entscheidung verfassungsgerichtlicher Kontrolle am Maßstab des Art. 6 Abs. 2 S. 2 GG grundsätzlich nur dann stand, wenn das Gericht in Auseinandersetzung mit den für eine nachhaltige Gefahr sprechenden Anhaltspunkten nachvollziehbar begründet, warum eine solche Gefahr für das Wohl des Kindes nicht vorliegt. An einer nachvollziehbaren Begründung fehlt es, wenn die angegriffene Entscheidung nicht hinreichend darlegt, sich eine ausreichend zuverlässige Grundlage für die Prognose über die dem Kind drohenden Beeinträchtigungen verschafft zu haben, dabei von den Empfehlungen des Jugendamts und der Verfahrensbeiständin sowie des Ergänzungspflegers abweicht und bei der Abwägung erhebliche Umstände übergeht, die für eine Gefährdung des Kindeswohls bei der Betreuung durch den mit der psychisch kranken Mutter wieder zusammen lebenden Vaters sprechen.
(red.LS)
BVerfG, Stattgebender Kammerbeschl. v. 5.9.2022 – 1 BvR 65/22 (OLG Koblenz)
Aus den Gründen
Gründe: I. [1] 1. Die Beschwerdeführerin ist Verfahrensbeiständin eines im April 2019 geborenen Kindes. Dessen Eltern sind nicht miteinander verheiratet, haben aber eine gemeinsame Sorgeerklärung für das Kind abgegeben. Beide Eltern waren langjährige Betäubungsmittelkonsumenten. Zwischen den Eltern kam es sowohl in der Vergangenheit als auch aktuell immer wieder zu Trennungen und Versöhnungen. Die Mutter ist seit 2010 in psychiatrischer Behandlung und hat eine gesetzliche Betreuerin. Ihre beiden Töchter aus einer früheren Beziehung leben seit 2016 in einer Pflegefamilie.
[2] Nach der Geburt des hier betroffenen Kindes verschlechterte sich der psychische Zustand der Mutter und es kam zu mehreren teilweise mit Gewalt ausgetragenen Konflikten zwischen den Eltern, gefolgt von gegenseitigen Anschuldigungen bis hin zu einer Strafanzeige der Mutter gegen den Vater. Das daraufhin eingeleitete strafrechtliche Ermittlungsverfahren wurde eingestellt.
[3] Anfang 2020 befand sich die Mutter mit dem Kind in stationärer Behandlung in einer psychiatrischen Fachklinik. Es wurde unter anderem eine drogeninduzierte Psychose festgestellt. Der Vater war zu der Zeit arbeits- und wohnungslos. Nach Abbruch der Therapie wurde das Kind in Obhut genommen.
[4] 2. In einem einstweiligen Anordnungsverfahren entzog das Familiengericht den Eltern mit Beschl. v. 24.6.2020 vorläufig die elterliche Sorge in den Teilbereichen Aufenthaltsbestimmung, Regelung ärztlicher Versorgung und Recht zur Beantragung von Jugendhilfemaßnahmen. Die dagegen gerichtete Beschwerde der Eltern wies das Oberlandesgericht im Oktober 2020 zurück. Es begründete dies mit dem Verhalten der Eltern, insbesondere ihren Betäubungsmittelrückfällen und den mit körperlicher Gewalt ausgetragenen Partnerschaftskonflikten, den Berichten der psychiatrischen Fachklinik, wonach der Vater einen ungünstigen Einfluss auf die Mutter ausübe, und den dominant konflikt- und gewaltbereiten Äußerungen des Vaters im Verfahren.
[5] 3. a) Das Familiengericht holte im Hauptsacheverfahren zum Sorgerecht ein Gutachten einer Fachärztin für Kinder- und Jugendpsychiatrie/-psychotherapie unter anderem zu der Frage der Erziehungsfähigkeit beider Elternteile sowie zu einer möglichen Kindeswohlgefährdung im elterlichen Haushalt ein. In ihrem am 8.3.2021 schriftlich erstatteten Gutachten bewertete die Sachverständige einen Wechsel des Kindes in den Haushalt der Eltern als kindeswohlgefährdend. In der Vergangenheit hätten die Eltern die kindeswohldienlichen Bedürfnisse durch ihren Drogenkonsum und die gewaltsamen Partnerschaftskonflikte stark verletzt, weshalb das Kind keine sicheren Bindungen zu den Eltern habe entwickeln können. Derzeit könne sich das Kind nicht an den Eltern als Bindungspersonen orientieren, so dass diese aktuell keine Sicherheitsbasis für das Kind darstellen könnten. Eine adäquate Erziehungsfähigkeit der Mutter sei wegen ihrer psychischen Instabilität nicht vorhanden, ambulante oder stationäre Hilfen seien nicht ausreichend, weshalb eine Gefahr für das Kindeswohl weiterhin nur durch eine Fremdplatzierung abzuwenden sei. Die Erziehungsfähigkeit des Vaters müsse noch weiter überprüft werden, er sei zwar aktuell drogenfrei und psychisch stabiler, jedoch sei fraglich, ob er insgesamt die personellen...