Eine herausgehobene Stellung kommt Art. 21 Brüssel-IIb-VO zu, der das Recht des Kindes auf Meinungsäußerung normiert und damit ein Verfahrensgrundrecht für das Erkenntnisverfahren kodifiziert. Zwar war die Kindesanhörung schon allein deshalb, weil Art. 24 EU-GR-Charta und Art. 12 UN-KRK sowie Art. 6 und Art. 8 EMRK hierzu verpflichten, bereits unter der Geltung der Brüssel-IIa-VO unbestritten und entsprach der diesbezüglichen Rechtsprechung des EuGH. Ausdrücklich vorgesehen war die Kindesanhörung dort allerdings nur für Entscheidungen über die Rückführung nach Art. 12 und Art. 13 HKÜ. Mit der expliziten Normierung in Art. 21 Brüssel-IIb-VO, die aufgrund der Pflicht zur vorrangigen Berücksichtigung höherrangingen Rechts nicht hätte erfolgen müssen, sollte die Bedeutung der Meinungsäußerung des Kindes für die gerichtliche Entscheidungsfindung, insbesondere für die gerichtliche Bewertung des Kindeswohls, betont werden.
Art. 21 Brüssel-IIb-VO sieht eine doppelte Verpflichtung der Gerichte vor, nämlich der Pflicht zur Anhörung des Kindes und die Pflicht zur Berücksichtigung der geäußerten Meinung des Kindes entsprechend seinem Alter und seiner Reife. Diese inhaltliche Trennung in zwei verschiedene Pflichten knüpft an Art. 12 KRK und Art. 24 UN-GRCh an, die beide ebenfalls zwischen dem Recht des Kindes, seine Meinung äußern zu können, und dem Recht des Kindes auf angemessene Berücksichtigung der von ihm geäußerten Meinung differenzieren. In Erwägungsgrund Nr. 39 wird explizit auf die Bedeutung dieser Bestimmungen für die Verordnung hingewiesen, weshalb für die Auslegung und Anwendung des Art. 21 Brüssel-IIb-VO auf die anerkannten Grundsätze der Art. 12 KRK und Art. 24 UN-GRCh zurückzugreifen sein wird.
Eine absolute Verpflichtung zur Anhörung gibt es nach wie vor nicht, sondern es handelt sich um ein Recht des Kindes, welches unter Berücksichtigung des Kindeswohls beurteilt werden muss. Hierfür ist, genauso wie für die Durchführung und die Modalitäten, weiter das nationale Recht relevant, in Deutschland also § 159 FamFG. Art. 21 Brüssel-IIb-VO regelt nur, dass das Kind überhaupt angehört werden muss, nicht jedoch das Wie der Anhörung, etwa den Ort und die Form der Befragung des Kindes. Die Mitgliedstaaten müssen untereinander darauf vertrauen, dass das Anhörungsprozedere in den einzelnen Staaten gleichwertig ist. Laut Erwägungsgrund Nr. 3 ist dies gerade gewollt: Es sollen die unterschiedlichen Rechtstraditionen vorrangig geachtet und das gegenseitige Vertrauen der Mitgliedstaaten ausgebaut werden.
Art. 21 Brüssel-IIb-VO stellt einen erheblichen Fortschritt dar, da nunmehr ausdrücklich und für jedes Verfahren vorgegeben wird, dass ein Kind, das fähig ist, sich eine eigene Meinung zu bilden, angehört werden muss, und dass die Gerichte den geäußerten Willen des Kindes mit einem Gewicht, das von Alter und Reifegrad abhängt, zu beachten haben. Trotz der weiterhin bestehenden Regelungshoheit der Mitgliedstaaten hinsichtlich der Modalitäten der Anhörung bewirkt die Implementierung dieser unmittelbar verbindlichen Verfahrensvorschrift über ihre symbolische Bedeutung im Sinne einer Betonung der Relevanz des Kindeswillens für das Kind betreffende Entscheidungen hinaus eine gewisse Vereinheitlichung der Kindesanhörung über die Grenzen der nationalen Rechtsordnungen hinweg.