Leitsatz (amtlich)
1. Für die Anerkennung einer Entscheidung eines EU-Mitgliedstaates auf dem Gebiet der elterlichen Verantwortung bleibt die Brüssel IIa-VO maßgeblich, wenn das zu dieser Entscheidung führende Verfahren vor dem 1. August 2022 eingeleitet worden war (Art. 100 Abs. 2 Brüssel IIb-VO).
2. Im Rahmen der Prüfung des Anerkennungshindernisses nach Art. 23 lit. b Brüssel IIa-VO ist auf die wesentlichen Verfahrensgrundsätzen abzustellen, die im anerkennenden Staat gelten.
3. Fand die letzte Anhörung des Kindes im ausländischen Verfahren rund 18 Monate vor der Entscheidung statt, und hat sich seine Situation im Tatsächlichen seit seiner letzten Anhörung geändert, steht dies wegen Art. 23 lit. b Brüssel IIa-VO zwingend einer Anerkennung der ausländischen Entscheidung entgegen; denn für die Reichweite der Pflicht, das Kind anzuhören, ist § 159 FamFG in seiner durch die Rechtsprechung des BVerfG ausgeprägten Anwendungspraxis maßgeblich.
Normenkette
EGV 2201/2003 Art. 23 Buchst. b, Art. 100 Abs. 2
Verfahrensgang
AG Merzig (Beschluss vom 07.08.2023; Aktenzeichen 20 F 107/23 SO) |
Tenor
I. Auf die Beschwerde der Antragstellerin wird der Beschluss des Amtsgerichts - Familiengericht - in Merzig vom 7. August 2023 - 20 F 107/23 SO - dahingehend abgeändert, dass der Antragstellerin die elterliche Sorge für J.W., geboren am F, und F.W., geboren am J, allein übertragen wird.
II. Die Kosten des Beschwerdeverfahrens werden gegeneinander aufgehoben, hinsichtlich der Kosten der ersten Instanz bewendet es bei der Entscheidung des Familiengerichts.
Gründe
I. Die am F. geborene J.W. und die am J. geborene F.W. sind aus der am J. in M./Luxemburg geschlossenen Ehe der Antragstellerin (fortan: Mutter), deutsche Staatsangehörige, und des Antragsgegners (Vater), luxemburgischer Staatsbürger, hervorgegangen. Die Eltern, welche bis dahin mit den Kindern auf dem Bauernhof des Vaters in M./Luxemburg lebten, trennten sich im Sommer 2016. Seitdem ist der Lebensmittelpunkt der Kinder unter ihnen streitig und war - ebenso wie der Umgang - Gegenstand von gerichtlichen Verfahren in Luxemburg sowie beim Amtsgericht - Familiengericht - in Merzig.
In dem vom Vater eingeleiteten Verfahren vor dem Bezirksgericht in Luxemburg (Nr. 310/2016), in welchem der Scheidungswunsch des Vaters am 7. Juli 2016 der Mutter zugestellt wurde, erging am 2. September 2016 ein Urteil im beschleunigten Verfahren, worin u.a. beiden Ehegatten die Erlaubnis zum Getrenntleben während der Dauer des Scheidungsprozesses erteilt und der Mutter einstweilen das Aufenthaltsbestimmungsrecht für J. und F. übertragen sowie der Umgang des Vaters mit beiden Kindern i.S. eines Wochenendumganges alle 14 Tage von Freitag nach Schule/Kindergarten bis Sonntag 18.30 Uhr, jede Woche donnerstags nachmittags nach Schule/Kindergarten bis 18.00 Uhr und in der Hälfte der Schulferien geregelt wurde. Die Eltern setzten diese Entscheidung am 13. September 2016 um, seitdem leben die Kinder im Haushalt der Mutter, zunächst bei deren Eltern in Kirf-Beuren, ab März 2019 in Freudenburg und seit November 2021 in Merzig-Brotdorf.
In dem Scheidungshauptsacheverfahren vor der 4. Zivilkammer des Bezirksgerichts in Luxemburg (Nr. 305/2017) beantragte die Mutter mit Schriftsatz vom 15. März 2017 das alleinige Sorgerecht für beide Kinder. Daraufhin fand am 4. April 2017 eine Anhörung der Eltern statt, in welcher beide u.a. übereinstimmend erklärten, sich "eins zu sein, der Mutter das Beherbergungsrecht der Kinder zu belassen". Mit Zivilurteil vom 13. Juli 2017 sprach das Bezirksgericht die Scheidung der Ehe wegen gegenseitigen Verschuldens aus und setzte die Entscheidung über die weiteren Streitpunkte der Eltern (Unterhalt und Schadensersatz) aus. Nachdem der Vater mit Schriftsatz vom 13. Dezember 2017 dem alleinigen Aufenthaltsbestimmungsrecht der Mutter für beide Kinder widersprach, wies das Bezirksgericht nach weiterer Überprüfung mit Zivilurteil vom 8. März 2018 (Nr. 104/2018) der Mutter das Betreuungsrecht (Aufenthaltsbestimmungsrecht) zu, verpflichtete die Eltern, das Sorgerecht für beide Kinder gemeinsam auszuüben und regelte ein Besuchsrecht für den Vater; den Antrag des Vaters auf Bestellung eines Rechtsanwalts für die Kinder verwarf es mit der Begründung, diese seien auf Grund ihres Alters von damals vier und sechs Jahren nicht anzuhören.
Gegen diese Entscheidung legten beide Eltern Berufung zum Berufungsgerichtshof des Großherzogtums Luxemburg (Verfahren ehemals: CAL 2018 - 00473 und CAL 2018 - 00493, nach Zusammenführung: 78/23-I-CIV) ein. Gegenstand des Berufungsverfahrens waren u.a. - soweit vorliegend von Interesse - die wechselseitigen Anträge der Eltern auf Zuweisung des Aufenthaltsbestimmungsrechts für beide Kinder sowie der Antrag der Mutter auf Übertragung der Alleinsorge, während der Vater die Aufrechterhaltung der gemeinsamen Sorge der Eltern im Übrigen anstrebte. Beide Eltern warfen sich mangelnde Kooperation und Absprache mit dem jeweils anderen sowie fehlende Bindungstoleranz vor; der Va...