Angesichts der nicht zu übersehenden Ungereimtheiten bietet der vorliegende Beschluss erneut Anlass, sich mit der Funktion des Kindergeldes und seiner Bedeutung im System des Steuer-, Sozial- und Familienrechts auseinanderzusetzen.
Dabei ist vorweg nochmals klarzustellen, dass – von Ausnahmen abgesehen – Kindergeld kein Einkommen des Kindes ist. Es steht als eigener Anspruch dem jeweils Bezugsberechtigten zu und gehört zu dessen Einkommen (§ 62 Abs. 1 EStG). Anspruchsberechtigt sind beide Elternteile, die Anspruchskonkurrenz ist der Regelfall. Sie wird aber nur sichtbar, wenn das Kind nicht mit beiden Eltern zusammenlebt. Die Leistung wird immer nur an einen Berechtigten erbracht. Das EStG hat aus dem Bundeskindergeldgesetz die abgestufte Zuweisung an die Bezugsberechtigten übernommen. Den Vorrang hat der Berechtigte, der das Kind in seinen Haushalt aufgenommen hat (Obhutsprinzip); zusammenlebende Eltern haben den Berechtigten zu bestimmen. Lebt das Kind nicht im Haushalt eines Berechtigten, ist hingegen bezugsberechtigt, wer die (höchste) Unterhaltsrente zahlt (§ 64 EStG). Lediglich bei Verletzung der Unterhaltspflicht bzw. in Fällen, in denen eine Unterhaltspflicht mangels Leistungsfähigkeit nicht besteht, kommt eine Auszahlung an das Kind oder an Dritte, die dem Kind Unterhalt gewähren, in Betracht (§ 74 EStG). Die Vorschrift entspricht der Abzweigungsnorm des § 48 SGB I. Eine bestimmte Verwendung schreiben die Leistungsgesetze (§§ 61 ff. EStG; §§ 1 ff. BKGG) indes nicht vor. Nur aus dem Kontext der Ausnahmevorschriften (§ 74 EStG; § 48 SGB I) erschließt sich, dass das Kindergeld in erster Linie zur Deckung des allgemeinen Lebensbedarfs des Kindes zu verwenden ist.
Das in seiner Anfangszeit zur Lohnergänzung bei geringen Einkommen dienende Kindergeld entwickelte sich im Laufe der Jahre zu einer politisch nahezu beliebig verfügbaren Größe. Seit dem Jahressteuergesetz von 1996 beruht das Kindergeld auf einem dualen System von Steuererstattung und Sozialausgleich. Tatsächlich hat dieses System eine dreifache Funktion. Neben der vorrangigen Steuererstattung spricht das EStG zwar nur von der "Förderung der Familie" (§ 31 S. 2 EStG). Bei genauer Betrachtung wirkt das Kindergeld jedoch zum einen als existenzsichernde Sozialleistung und nur noch in einem entsprechend kleineren Sektor als staatliche Subvention für Familien. Alle Bereiche überlagern sich und das Schwergewicht kann sich bei einer Änderung des Einkommens oder der Lebensumstände jederzeit verschieben. Der jeweilige Zweck des Kindergeldes wird durch viele Variablen beeinflusst. Seine Funktion lässt sich daher nur in Abhängigkeit von der jeweiligen Situation anhand von drei Grundmodellen beschreiben.
1. Bei geringen Einkommen wirkt das Kindergeld vor allem als existenzsichernde Transferleistung. Einkommensteuer fällt bei diesen Einkommen allenfalls in geringer Höhe an, so dass der Sozialanteil des Kindergeldes eindeutig überwiegt. Die Zahlung des in seiner Höhe durchaus beachtlichen Kindergeldes vermeidet das Abgleiten in die Hilfebedürftigkeit. Das Kindergeld hat hier dieselbe wirtschaftliche Brückenfunktion wie der Kinderzuschlag nach § 6a BKGG.
Dies zeigt sich an folgendem Beispiel für eine vierköpfige Familie:
Einkommensberechnung |
Sozialrechtliche Vergleichsberechnung |
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Einkommen brutto |
2.165 EUR |
Regelsatz |
328 EUR |
./. Lohnsteuer/Solidarzuschlag |
– 66 EUR |
Regelsatz |
328 EUR |
./. Kirchensteuer |
0 EUR |
Regelsatz Kind |
251 EUR |
./. Rentenversicherung |
– 215 EUR |
Regelsatz Kind |
251 EUR |
./. Kranken-/Pflegeversicherung |
– 199 EUR |
Zzgl. Bildung/Teilhabe 2*21 |
42 EUR |
./. Arbeitslosenversicherung |
– 33 EUR |
Kosten der Unterkunft (warm) |
584 EUR |
Einkommen netto |
1.652 EUR |
Bedarf Summe |
1.784 EUR |
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Anrechenbares Einkommen |
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Einkommen netto |
1.652 EUR |
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./. Grundfreibetrag |
– 100 EUR |
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./. Freibetrag Erwerbstätige |
– 230 EUR |
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+ Kindergeld |
368 EUR |
+ Kindergeld |
368 EUR |
+ Wohngeld |
93 EUR |
+ Wohngeld |
93 EUR |
Haushaltseinkommen |
2.113 EUR |
anrechenbar |
1.783 EUR |
Das Familieneinkommen entspricht der Leistungsschwelle (anrechenbares Einkommen 1.783 EUR ./. 1.784 EUR Bedarf). Durch das Kindergeld werden 66 EUR Lohnsteuer erstattet. Zusammen mit dem Wohngeld ist der Restbetrag erforderlich, um den Bezug von ergänzendem ALG II zu vermeiden. Das den Steueranteil übersteigende Kindergeld hat in dieser Modellfamilie ausschließlich die Funktion einer sozialen Transferleistung zur Sicherung des Existenzminimums. Anders als bei dem bedürftigkeitsabhängig gezahlten Kinderzuschlag ist die Leistung jedoch nicht sozialrechtlichen Regeln, sondern nur den Vorschriften des EStG unterworfen.
2. Bei höheren Einkommen bewirkt der Kinderfreibetrag eine Minderung der Einkommensteuer um einen größeren Betrag als das gezahlte Kindergeld. In diesen Fällen dient das Kindergeld allein der Erstattung einer zu hoch angesetzten Lohnsteuer. Die endgültige Abrechnung und Verrechnung mit dem gezahlten Kindergeld erfolgt bei der Veranlagung zur Einkommensteuer. Die Grenze liegt bei einem Grenzste...