I. Zu Thema und Methode
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Beim Lesen des angekündigten Themas sind Sie vielleicht ins Rätseln geraten. Wer will in diesen schwankenden Zeiten wissen oder ahnen, was 2014 sein wird? Vielleicht ist bis dahin das ganze wirtschaftliche System zusammengebrochen und die Düsseldorfer Tabelle weist anstelle von Barbeträgen die Lieferung von Eiern, Mehl und Kartoffeln aus.
Die verehrte Präsidentin der Arbeitsgemeinschaft hat mir das Thema, anspielend auf meine Weihnachtsglosse vom vergangenen Jahr, zugeworfen, und ich habe es in einer spontanen Reaktion aufgefangen. Damit freilich war ich in der Bredouille. Alle Vorausschau, alle Prophetie, alle Vision sind eitel Tand in diesen volatilen Zeiten. In meiner Not habe ich Umschau gehalten nach Berufen, die sich professionell der Prognose widmen, und bin – abgesehen von Wahrsagern und Wetterfröschen – auf die Börsenanalysten gestoßen, die uns täglich darüber aufklären, wie es mit Aktien, Devisen und Derivaten weitergeht. Die prognostische Treffsicherheit der Börsengurus wirst du wohl auch noch schaffen, dachte ich mir.
Und so will ich versuchen, nach der Methode dieser Spezialisten zu verfahren. Diese pflegen allerdings nicht mit der Zukunft zu beginnen, sondern mit den Charts, diesen wunderbaren Berg- und Tal-Kurven, die den bisherigen Verlauf zeigen und mit einer Ahnung enden, wie es weitergehen könnte. Die analytische Methode will ich an den Unterhaltsansprüchen unter geschiedenen Ehegatten und unter Eltern eines nichtehelichen Kindes erproben. Vorsichtshalber füge ich hinzu, dass die folgenden Charts nicht die Exaktheit von Börsenkursen haben können, sich also eher als "gefühlte Charts" verstehen.
II. Chartanalyse: Unterhalt unter Geschiedenen
1. Bis 1976: Verschulden und Billigkeit als Anspruchsgründe
Die Charts – sie gibt es im Übrigen nur im Plural – lasse ich im Jahre 1976 einsetzen, am Vorabend der großen Reform des Scheidungsrechts durch das 1. EheRG. Damals war der Scheidungsunterhalt noch in dem aus dem Jahre 1938 stammenden Ehegesetz geregelt und nach Geschlecht und Verschulden unterschiedlich sortiert.
Unterhaltspflichtig war vor allem der allein oder überwiegend als schuldig geschiedene Mann, und zwar nach dem Maß der "Lebensverhältnisse der Ehegatten" – das war eindeutig eine Art Schadensersatz. Die allein oder überwiegend schuldige Frau hatte dem Mann, der sich nicht selbst unterhalten konnte, "angemessenen Unterhalt" zu leisten. Bei beiderseitigem etwa gleichem Verschulden richtete sich die Unterhaltspflicht nach Billigkeit. Die Rangverhältnisse waren nicht klar geregelt, folglich streitig, insbesondere das Verhältnis zum neuen Ehegatten des Pflichtigen. Das alte Recht gab der unschuldig geschiedenen Frau fast alles, der schuldig geschiedenen allerdings nichts. Davon abgesehen lag das Meiste in der Grauzone der Billigkeit – einem Begriff, dem eine große Karriere im Unterhaltsrecht bevorstehen sollte.
Wenn wir unsere Charts aus der Sicht des unterhaltsuchenden Teils anlegen, also nach den Chancen, zu einem Unterhaltsanspruch zu gelangen, so können wir bei einem Raster von 100 bei gefühlten 60 Punkten einsetzen. Das ist der Ausgangswert für eine dramatische Chartentwicklung.
2. 1977: Die Hausse durch das 1. EheRG; das Altersphasenmodell
Mit dem 1. Eherechtsreformgesetz, in Kraft getreten zum 1.7.1977, springt die Chance für nachehelichen Unterhalt auf eine bisher nicht gekannte Ebene. Was war der rechtspolitische Hintergrund? Der Übergang von einem Mischsystem aus Verschuldens- und Zerrüttungsscheidung zu einer reinen Zerrüttungsscheidung bedeutete einen Umsturz des bisherigen Eheverständnisses, bei dem nicht allen wohl war. Die konkrete politische Situation sah eine rot-gelbe Koalition an der Regierung, während im Bundesrat die CDU/CSU geführten Länder die Mehrheit hatten. Da die Scheidungsreform partiell der Zustimmung des Bundesrates bedurfte, drohte die Reform ohne eine Einigung zwischen den politischen Blöcken zu scheitern.
Die Verabschiedung des Verschuldens als Normelement auch im Scheidungsfolgenrecht ließ gewisse Befürchtungen aufkommen. Zwei Szenarien belebten die Fantasie:
Szenario 1: Der ökonomisch überlegene Ehemann orientiert sich erotisch neu und verstößt die Ehefrau, die bisher mit seinem Einverständnis den Haushalt geführt und überwiegend die Kinder betreut hat und die nun – nach ihrer Entfernung aus der Ehe – dem sozialen Abstieg anheim zu fallen droht (Stichwort: die verstoßene Hausfrau und Mutter).