Die Entscheidung des Bundesgerichtshofs bekräftigt zunächst altbekannte unterhaltsrechtliche Standards: Die einem minderjährigen unverheirateten Kind zum Unterhalt verpflichteten Eltern sind gehalten, ihre Arbeitskraft einzusetzen. Unterlassen sie eine ihnen mögliche und zumutbare Erwerbstätigkeit, obwohl sie sie bei gutem Willen ausüben könnten, sind ihnen sogenannte fiktive Einkünfte zuzurechnen. Diese Ausprägung der gesteigerten Unterhaltspflicht entspricht der herrschenden Auffassung in Literatur und Rechtsprechung. Sie ist verfassungsrechtlich anerkannt als Ausdruck der Elternpflicht des Art. 6 Abs. 2 GG. Gleiches gilt für die weitere Aussage, dass die Zurechnung fiktiver Einkünfte neben den ausreichenden Erwerbsbemühungen eine reale Beschäftigungschance voraussetzt, also die Aussicht, bei hinreichenden Bemühungen tatsächlich eine Beschäftigung zu finden.
Die Umschreibung der an diese reale Beschäftigungschance zu stellenden Anforderungen stellt den Schwerpunkt der Entscheidung dar. Der Bundesgerichtshof legt insoweit strenge (oder gar strengste?) Maßstäbe an. Der Unterhaltsschuldner, der sich – bewusst oder notgedrungen – in seine Arbeitslosigkeit gefügt hat, schreckt auf bei dem Satz: "Für gesunde Arbeitnehmer im mittleren Erwerbsalter wird auch in Zeiten hoher Arbeitslosigkeit regelmäßig kein Erfahrungssatz dahin gebildet werden können, dass sie nicht in eine vollschichtige Tätigkeit zu vermitteln seien." Dies gelte – so der BGH – für ungelernte Kräfte, Ausländer mit geringen Sprachkenntnissen und auch für diejenigen, die bislang nur geringfügig oder im Rahmen von Zeitarbeit beschäftigt waren. Damit verlieren persönliche Hindernisse wie eine fehlende Ausbildung oder unzureichende Sprachkenntnisse sowie die bisherige berufliche Entwicklung jegliche Indizwirkung für die Frage nach dem Vorhandensein einer realen Beschäftigungschance. Während der Bundesgerichtshof noch im Jahre 2012 für die 58 Jahre alte Ehefrau ohne Berufsausbildung per se eine reale Chance auf eine Vollzeitbeschäftigung verneint hat, lehnt er nun jegliche pauschale Betrachtungsweise ab: Den Nachweis einer fehlenden Beschäftigungschance kann der Unterhaltsschuldner nur durch den Nachweis hinreichender Erwerbsbemühungen führen. Wie diese jedenfalls in den Fällen gesteigerter Unterhaltspflicht auszusehen haben, ist zumindest teilweise den Hinweisen des Bundesgerichtshofes für das weitere Verfahren vor dem Oberlandesgericht zu entnehmen: Nicht ausreichend ist die Bewerbung auf die vom zuständigen Jobcenter angebotenen Stellen; zu prüfen ist zudem, ob die Verpflichtung zur Ausübung einer Nebentätigkeit besteht.
Am Ende (Tz. 22) überrascht die Entscheidung vom 22.1.2014 doch: Sie verweist darauf, dass bislang nicht vorgetragen sei, dass auch bei ausreichenden Erwerbsbemühungen dem Schuldner mehr als der notwendige Selbstbehalt verbleibe. Damit liegt der Bundesgerichtshof auf der Linie des Bundesverfassungsgerichts, das die Instanzgerichte gerade für die seiner Ansicht nach vorschnelle Zurechnung über dem Selbstbehalt liegender fiktiver Einkünfte gemaßregelt hat. Die Zurückverweisung, die Gelegenheit geben soll, Feststellungen zu den hinreichenden Erwerbsbemühungen zu treffen, erscheint auf den ersten Blick entbehrlich.
Zusammenfassend schafft die Entscheidung eine gewisse Klarheit für den tatsächlich oder vermeintlich nicht leistungsfähigen Schuldner: Ist dieser gesund und im vermittelbaren Alter, hat er konkrete Erwerbsbemühungen darzulegen. Allein deren Scheitern lässt den Rückschluss auf das Fehlen einer realen Beschäftigungschance zu. Ist sein Bemühen nicht ausreichend, ist in einem zweiten Schritt in Anwendung der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts im Einzelnen darzulegen, wie hoch sein fiktives Einkommen wäre und ob dieses unter Berücksichtigung des Mindestselbstbehalts Unterhaltszahlungen zulässt.
Birgit Niepmann, Direktorin des AG Bonn
FF 6/2014, S. 253 - 257