Die erste Bundesverfassungsgerichtsentscheidung, die hierzu Stellung nimmt, stammt aus dem Jahre 1988. Es ging um die Frage, ob ein erwachsenes Kind gegen seine Mutter einen Anspruch auf Benennung des biologischen Vaters hat. Das Gericht bejahte unter dem damaligen Nichtehelichenrecht einen solchen Anspruch grundsätzlich. Es leitete diesen aus dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht nach Art. 2 GG und dem verfassungsrechtlichen Gebot der Gleichbehandlung nichtehelicher und ehelicher Kinder nach Art. 6 Abs. 5 GG her. Grundsätzlich müsse dieses Recht des Kindes mit dem sich ebenfalls aus Art. 2 GG ergebenden Recht der Mutter auf Schutz ihrer Intimsphäre abgewogen werden. Das Gericht betont dann jedoch:
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"Die Eltern eines nichtehelichen Kindes haben im Regelfall ihre Interessen denjenigen des Kindes unterzuordnen, denn sie haben die Existenz des Kindes und seine Nichtehelichkeit zu vertreten."
Von einem absoluten Recht auf Kenntnis als Ausfluss der Menschenwürde ist aber nicht die Rede.
Bald darauf hatte das Bundesverfassungsgericht wiederum Gelegenheit, sich mit dem Recht des Kindes auf Kenntnis der eigenen Abstammung zu beschäftigen. Dabei ging es – in der damaligen Terminologie – um ein eheliches Kind, das wegen der damals bestehenden Einschränkung seines Anfechtungsrechts den biologischen Vater nicht feststellen lassen konnte. Auch hier betonte das Gericht die besondere Bedeutung dieses Rechts:
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"Verständnis und Entfaltung der Individualität sind mit der Kenntnis der für sie konstitutiven Faktoren eng verbunden. Die Abstammung legt nicht nur die genetische Ausstattung des Einzelnen fest, sondern prägt seine Persönlichkeit mit. Sie nimmt im Bewusstsein des Menschen eine Schlüsselstellung für Individualitätsfindung und Selbstverständnis ein."
Das Gericht bezog sich dabei aber wiederum nicht auf die Menschenwürde des Art. 1 Abs. 1 GG, sondern nur auf das allgemeine Persönlichkeitsrecht des Art. 2 Abs. 1 GG.
Diese grundsätzliche Bejahung eines Rechts auf Kenntnis der eigenen Abstammung und seine Herleitung aus Art. 2 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG hat das Bundes verfassungsgericht auch in der Folgezeit beibehalten. Art. 7 Abs. 1 UN-Kinderrechtskonvention war damals noch nicht in Kraft, wird aber auch in den neueren Entscheidungen nicht zitiert. Art. 8 EMRK, der im deutschen Recht nur den Rang eines einfachen Gesetzes hat, wird in jüngeren Entscheidungen, insbesondere in dem viel beachteten – und zu Recht kritisierten – Rechtsspruch vom Mai 2016 erwähnt und eine Abstimmung mit der Rechtsprechung des EGMR in Straßburg versucht.
Der EGMR in Straßburg hat sich ebenfalls verschiedentlich mit diesem Recht beschäftigt und es grundsätzlich als Ausfluss des Rechts auf Achtung des Privatlebens nach Art. 8 EMRK bejaht. Die Begründungen des Gerichts lesen sich sehr ähnlich wie die des Bundesverfassungsgerichts:
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"Die Achtung vor dem Privatleben verlangt, dass es jedem möglich sein sollte, Einzelheiten seiner Identität als menschliches Individuum festzustellen. Der Anspruch des Individuums auf diese Informationen ist von Bedeutung, weil sie entscheidende Auswirkungen auf seine Persönlichkeit haben."
Darüber hinaus betont der EGMR, dass dieser Wunsch nach Aufdeckung der genetischen Abstammung als Grundelement der Identitätsfindung auch im höheren Alter bestehen bleibe. Allerdings sieht auch der EGMR Ausnahmen und Grenzen dieses Rechts. Dabei billigt er den Vertragsstaaten einen gewissen Ermessensspielraum in der Ausgestaltung zu.
Diese Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und des EGMR zu dem grundsätzlichen Bestehen eines solchen Rechts des Kindes auf Kenntnis der eigenen Abstammung kann heute als überwiegend gebilligt und damit als herrschende Meinung in Deutschland, aber auch darüber hinaus in den Vertragsstaaten der EMRK angesehen werden.