Für Europa hat die Weltgesundheitsorganisation 2013 einen Report veröffentlicht und zunächst einmal festgestellt, dass 90 % aller Vernachlässigungs-, Misshandlungs- und Missbrauchsfälle in Europa in den Institutionen wie Krankenhäusern, Gerichten, Jugendämtern etc. nicht wahrgenommen werden. Die Skandalfälle wie der "Breisgauer Fall" sind also nur die oberste Spitze eines kleinen sichtbaren Eisbergs des institutionellen Hellfelds, während ein riesiger Teil des Dunkelfelds nicht wahrgenommen wird.
Die Weltgesundheitsorganisation spricht von einer Prävalenz für sexuellen Missbrauch bei einer breiten Definition in der europäischen Region von 13,4 % für Frauen und 5,7 % für Männer, wobei die Angaben von der Art der Fragen abhängen: Mehrere detaillierte Fragen zu einzelnen Handlungen ergeben höhere Antwortraten als generelle Fragen wie "Sind sie misshandelt oder missbraucht worden?". Im Rahmen einer Repräsentativbefragung einer Forschungsgruppe des Universitätsklinikums Ulm mit einem standardisierten Fragenbogen, dem Childhood Trauma Questionnaire, ergaben sich 2017 für die deutsche Bevölkerung folgende Häufigkeiten: 7,6 % der Befragten berichteten von sexuellem Missbrauch (wird eine breitere Definition zugrunde gelegt, kommt es zu ähnlichen Zahlen wie im WHO-Report), 6,7 % von körperlicher Misshandlung, 6,5 % von emotionaler Misshandlung, 13,3 % von emotionaler Vernachlässigung und 22,5 % von körperlicher Vernachlässigung. Eine aktuelle, noch nicht veröffentlichte Befragung durch das Befragungsinstitut USUMA 2018 im Auftrag des Kompetenzzentrums Kinderschutz in der Medizin in Baden-Württemberg mit dem Childhood Trauma Screener und dem Adverse Childhood Experiences Fragebogen (ACE) führt ebenfalls zu Häufigkeiten im mittleren bis zweistelligen Prozentbereich.
Das sind erhebliche quantitative Dimensionen, die für die meisten Personen ohne epidemiologische Erfahrung nicht vorstellbar sind: Wenn in der Allgemeinbevölkerung ein Drittel aller Personen von mindestens einem potentiell traumatisierenden Kindheitserlebnis berichtet, dann kann davon ausgegangen werden, dass in familiengerichtlichen Verfahren, in denen es ja um Familienkonflikte geht, der Anteil mindestens gleich hoch ist, denn die meisten Misshandlungsformen kommen auch in Deutschland am häufigsten in der Familie und nicht in Institutionen vor.
Die zehn erfassten qualitativen Dimensionen solcher potentiell traumatisierenden Kindheitserlebnisse sind
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emotionale Misshandlung, |
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körperliche Misshandlung, |
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sexueller Missbrauch, |
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emotionale Vernachlässigung, |
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körperliche Vernachlässigung, |
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Trennungserfahrungen, |
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häusliche Gewalt in Form von Miterleben der Gewalt gegen die Mutter, |
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Substanzmissbrauchsprobleme (Alkoholabhängigkeit, Suchterkrankung eines Haushaltsmitglieds), |
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psychische Erkrankung eines Haushaltsmitglieds und |
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Gefängnisaufenthalt eines Haushaltsmitglieds. |
In der noch nicht veröffentlichten Repräsentativbefragung von über 2.500 über 14-jährigen Personen in Deutschland fanden wir für über 9 % der Gesamtstichprobe das Vorliegen von vier und mehr solcher Risiken. Die Verlaufsforschung zeigt, dass Personen, welche vier und mehr solcher Belastungen kombiniert erfahren haben, deutlich höhere Risiken für körperliche und seelische Gesundheitsbeeinträchtigungen haben und auch ihre Entwicklung und ihre weitere Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft hoch signifikant stärker beeinträchtigt sind.