GG Art. 6 Abs. 2 S. 1; BGB § 1666 § 1666a
Leitsatz
1. Die verfassungsgerichtliche Kontrolle kann sich bei gerichtlichen Entscheidungen zum Sorgerecht zum Zweck der Trennung des Kindes von den Eltern wegen des sachlichen Gewichts der Beeinträchtigung der Grundrechte von Eltern und Kindern auch auf einzelne Auslegungsfehler sowie auf deutliche Fehler bei der Feststellung und Würdigung des Sachverhalts erstrecken. (Rn 26)
2. Um eine Trennung des Kindes von den Eltern zu rechtfertigen, muss das elterliche Fehlverhalten ein solches Ausmaß erreichen, dass das Kind bei einem Verbleiben in der Familie in seinem körperlichen, geistigen oder seelischen Wohl nachhaltig gefährdet ist. Die Annahme einer nachhaltigen Gefährdung des Kindes setzt voraus, dass bereits ein Schaden des Kindes eingetreten ist oder eine Gefahr gegenwärtig in einem solchen Maße besteht, dass sich bei ihrer weiteren Entwicklung eine erhebliche Schädigung mit ziemlicher Sicherheit voraussehen lässt. (Rn 28)
3. Eltern darf das Sorgerecht für ihre Kinder nur unter strikter Beachtung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit entzogen werden. (Rn 37)
4. Die Familiengerichte haben bei der Entscheidung nach §§ 1666, 1666a BGB durch eine entsprechende Verfahrensgestaltung zu ermitteln, ob die tatsächlichen Voraussetzungen für eine Entziehung des Sorgerechts vorliegen. (Rn 47)
(Leitsätze der Redaktion)
BVerfG, Beschl. v. 24.3.2014 – 1 BvR 160/14 (OLG Zweibrücken, AG Landau/Pfalz)
1 Gründe:
[1] I. Die Beschwerdeführerin wendet sich – gleichzeitig im Wege des Eilantrags – gegen den Entzug des Aufenthaltsbestimmungsrechts und des Rechts zur Beantragung von Hilfen zur Erziehung für ihre beiden in den Jahren 2009 und 2011 geborenen jüngsten Kinder.
[2] 1. a) Die Beschwerdeführerin ist Mutter von fünf Kindern. Ihre älteste, nichteheliche Tochter ist bereits volljährig und wohnt nicht mehr im mütterlichen Haushalt. Aus einer mittlerweile rechtskräftig geschiedenen Ehe sind zwei weitere Kinder, geboren 2001 und 2004, hervorgegangen, die nach Trennung und Scheidung zunächst in der Obhut der Beschwerdeführerin lebten. Nach der Scheidung wurde die Beschwerdeführerin 2009 und 2011 Mutter der beiden hier betroffenen Kinder, die zunächst ebenfalls in der Obhut der Mutter aufwuchsen.
[3] Seit 2009 erhielt die Familie Erziehungshilfen in Form von sozialpädagogischer Familienhilfe. Dabei waren nacheinander zwei verschiedene Träger im Einsatz. Da diese familienunterstützende Maßnahme nicht ausreichte, erhielt die Familie zusätzlich eine ambulante flexible Hilfe durch eine Hauswirtschafterin. Die Hilfen wurden vom Kreisjugendamt zum 1.1.2013 eingestellt.
[4] Im Jahr 2010 durchlitt die Beschwerdeführerin eine mehrmonatige mittelgradige depressive Episode. Diese führte im Jahr 2010 zu einer parasuizidalen Tabletteningestion, in deren Folge die Beschwerdeführerin unterschiedliche medizinische, psychiatrische und psychotherapeutische Behandlungen stationärer und ambulanter Art erfuhr.
[5] Mit Schriftsatz vom 6.11.2012 beantragte der geschiedene Ehemann die Übertragung der elterlichen Sorge für die beiden gemeinsamen Kinder auf sich. Das Kreisjugendamt beantragte am 12.11.2012 die Einleitung eines Verfahrens gemäß § 1666 BGB bezüglich der vier minderjährigen Kinder der Beschwerdeführerin. Mit Schreiben vom 27.2.2013 beantragte das Kreisjugendamt die Anordnung familiengerichtlicher Eilmaßnahmen. Die Situation der betroffenen Kinder habe sich deutlich verschlechtert, so dass nun ein akuter Handlungsbedarf bestehe. Durch gerichtliche Vereinbarung vom 27.3.2013 einigten sich die Eltern darauf, dass der Sohn der geschiedenen Eheleute bis auf Weiteres beim Vater lebt.
[6] b) Mit Beschl. v. 27.3.2013 entschied das Amtsgericht nach Anhörung der Kinder sowie nach Anhörung unterschiedlicher professionell Beteiligter, von familiengerichtlichen Maßnahmen im Wege der einstweiligen Anordnung abzusehen.
[7] c) Mit Beschl. v. 17.6.2013 übertrug das Familiengericht die elterliche Sorge für die beiden gemeinsamen Kinder gemäß § 1671 Abs. 1 BGB auf den Vater. Auch die gemeinsame Tochter zog daraufhin zum Vater. Nach persönlicher Anhörung der Beteiligten durch den Senat nahm die Beschwerdeführerin ihre gegen den amtsgerichtlichen Beschluss eingelegte Beschwerde auf Empfehlung des Oberlandesgerichts mit Schriftsatz vom 17.10.2013 zurück.
[8] d) Durch angegriffenen Beschluss des Amtsgerichts vom 19.6.2013 wurde – nach Einholung eines Sachverständigengutachtens – der Beschwerdeführerin die elterliche Sorge für die beiden bei ihr verbliebenen Kinder hinsichtlich der Teilbereiche Aufenthaltsbestimmung und Beantragung von Jugendhilfemaßnahmen entzogen und auf das Kreisjugendamt als Ergänzungspfleger übertragen. Das Kindeswohl sei aufgrund (unverschuldeten) Versagens der Mutter im Fall eines weiteren Wohnens im mütterlichen Haushalt gefährdet.
[9] Das Gericht stützte sich dabei ausdrücklich im Wesentlichen auf die Erkenntnisse der Sachverständigen: Diese kämen zu dem Ergebnis, dass eine Fremdunterbringung sinnvoll sei, um den beiden Kindern...