I. Einleitung
Das Verhältnis von Bundesverfassungsgericht und Europäischem Gerichtshof für Menschenrechte geht nicht ohne Bremsspuren oder gar Funkenflug ab. Immer häufiger werden die Fälle, in denen das BVerfG Verfassungsbeschwerden (ohne Begründung!) nicht zur Entscheidung annimmt, um anschließend feststellen zu müssen, dass der EGMR der daraufhin erhobenen Individual- bzw. Menschenrechtsbeschwerde, gegebenenfalls sogar im Rahmen einer Grundsatzentscheidung, stattgegeben hat. Dafür braucht man gar nicht auf die aufsehenerregende "Caroline"-Entscheidung des EGMR von 2004 oder diejenige von 2009 zur Sicherungsverwahrung zu rekurrieren, bei denen es wenigstens noch zu einem offenen Schlagabtausch zwischen BVerfG und EGMR gekommen ist. Auch und gerade in der Folge hat es aber in Sachen Folter, überlange Verfahrensdauer, Whistleblowing, Tatprovokation durch verdeckte Ermittler, Dauer der Untersuchungshaft, Unterlassung einer mündlichen Verhandlung im strafrechtlichen Rehabilitierungsverfahren oder etwa Entschädigung für Kalksteinvorkommen, um nur einige besonders prominente Beispiele zu nennen, ganz überwiegend verdeckte Auseinandersetzungen zwischen den beiden Gerichten in Form (regelmäßig nicht begründeter) Nichtannahmebeschlüsse des BVerfG einerseits und stattgebender Urteile des EGMR andererseits gegeben. Dies hat erst unlängst den Hamburger Ordinarius Jürgen Schwabe aufgrund einer überschlägigen Berechnung zu einem aufgebrachten Zwischenruf wie folgt veranlasst:
Zitat
"Dass […] in über 100 in Straßburg erfolgreichen Fällen in Karlsruhe auf “evident unbegründet‘ oder belanglos entschieden wurde, muss starke Zweifel an der Qualität der zugrunde liegenden Voten erwecken. Hier sind Verbesserungen dringend vonnöten".
Auch und gerade das Familienrecht, speziell das Sorge- und Umgangsrecht mit Kindern, ist im Verhältnis von BVerfG und EGMR ein durchaus konfliktträchtiges Feld, und zwar unabhängig davon, dass sich das BVerfG seit den "Görgülü"-Entscheidungen ausdrücklich um Abstimmung oder gar Übereinstimmung mit den Vorgaben des EGMR bemüht. Wie sich das beiderseitige Verhältnis auf diesem Rechtsgebiet in den letzten knapp 15 Jahren entwickelt hat, soll hier nachvollzogen und kritisch gewürdigt werden. Im Fokus stehen dabei diejenigen Verfahren, bei denen es, soweit sich das feststellen lässt, zu gegenläufigen Entscheidungen des BVerfG einerseits und des EGMR andererseits, auf jeden Fall aber zu Verurteilungen von Deutschland durch den EGMR wegen Konventionsverletzungen gekommen ist. Dabei wird, um dies vorwegzunehmen, nicht übersehen, dass es in der ganz überwiegenden Mehrzahl der Fälle wegen der nach Meinung des EGMR gegebenen Unzulässigkeit/offensichtlichen Unbegründetheit der Individualbeschwerden zu deren Verwerfung kommt; und das gilt auch für diejenigen Individualbeschwerden, die dem jeweils betroffenen Mitgliedstaat der EMRK gemäß Art. 54 Abs. 2 Buchst. b der Verfahrensordnung des EGMR zuvor deshalb zur Stellungnahme übersandt bzw. zugestellt werden, weil sie begründet sein könnten oder weiterer Aufklärung bedürfen.
Mit dem vorliegenden, verfassungs- bzw. menschenrechtlich orientierten Beitrag soll schließlich, wenn auch leicht verspätet, das 20-jährige Erscheinen der Zeitschrift "Forum Familienrecht" unter seinem unermüdlichen Chefredakteur, Rechtsanwalt Klaus Schnitzler, gewürdigt werden.