Erzielt der Unterhaltspflichtige tatsächlich kein Einkommen, weil er nicht arbeitet, ist ein solches evtl. zu unterstellen mit der Folge, dass er als leistungsfähig anzusehen ist.

Nach dem in § 1603 Abs. 1 BGB verankerten Grundsatz ist nicht unterhaltspflichtig, wer bei Berücksichtigung seiner sonstigen Verpflichtungen außerstande ist, ohne Gefährdung seines eigenen angemessenen Unterhalts den Unterhalt zu gewähren. Eltern, die sich in dieser Lage befinden, sind gemäß § 1603 Abs. 2 S. 1 BGB ihren minderjährigen unverheirateten Kindern gegenüber verpflichtet, alle verfügbaren Mittel zu ihrem und der Kinder Unterhalt gleichmäßig zu verwenden. Diese gesteigerte Unterhaltspflicht ist nach der Rechtsprechung des BVerfG[54] eine Ausprägung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit im Unterhaltsrecht. Aus § 1603 Abs. 2 S. 1 BGB und aus Art. 6 Abs. 2 GG folgt die Verpflichtung der Eltern zum Einsatz der eigenen Arbeitskraft. Wenn der Unterhaltsverpflichtete eine ihm mögliche und zumutbare Erwerbstätigkeit unterlässt, obwohl er diese bei gutem Willen ausüben könnte, können deswegen nicht nur die tatsächlichen, sondern auch fiktiv erzielbare Einkünfte berücksichtigt werden.

Auch ein barunterhaltspflichtiger Elternteil, der den Umgang mit dem Kind in einem über das "übliche" Maß hinausgehenden, gesteigerten Maße wahrnimmt und für dieses in erhöhtem Umfang Betreuungs- und Versorgungsleistungen erbringt, ist und bleibt uneingeschränkt barunterhaltspflichtig. Dieser Elternteil ist unterhaltsrechtlich nicht berechtigt, wegen des erweiterten Umgangs seine Erwerbstätigkeit zu reduzieren und nur noch einer Teilzeitbeschäftigung nachzugehen, wenn dies dazu führt, dass er weniger als 100 % des Mindestunterhalts leisten kann.[55] Der BGH hat für solche Fälle entschieden, dass bei einem erweiterten Umgang lediglich eine Herabstufung in der "Düsseldorfer Tabelle" bis hinunter zum Mindestunterhalt vorgenommen werden kann.[56]

[54] BVerfG FamRZ 2014, 1977, 1978 Rn 17.
[56] BGH v. 12.3.2014 – XII ZB 234/13, FamRZ 2014, 917; BGH v. 5.11.2014 – XII ZB 599/13, FamRZ 2015, 236; vgl. auch OLG Frankfurt, Beschl. v. 3.4.2013 – 2 UF 394/12, FamRZ 2014, 46.

1. Voraussetzungen

Die Zurechnung fiktiver Einkünfte, in die auch mögliche Nebenverdienste einzubeziehen sind, setzt neben den nicht ausreichenden Erwerbsbemühungen eine reale Beschäftigungschance des Unterhaltspflichtigen voraus.[57] Für die Feststellung, dass für einen Unterhaltsschuldner keine reale Beschäftigungschance bestehe, sind – insbesondere im Bereich der gesteigerten Unterhaltspflicht nach § 1603 Abs. 2 BGB – strenge Maßstäbe anzulegen.

Für gesunde Arbeitnehmer im mittleren Erwerbsalter kann auch in Zeiten hoher Arbeitslosigkeit regelmäßig kein Erfahrungssatz dahin gebildet werden, dass sie nicht in eine vollschichtige Tätigkeit zu vermitteln seien.[58] Dieser Grundsatz gilt auch für ungelernte Kräfte.[59] Bei der Beurteilung der Erwerbschancen ist die bisherige Tätigkeit des Unterhaltsschuldners im Rahmen von Zeitarbeitsverhältnissen noch kein hinreichendes Indiz dafür, dass es ihm nicht gelingen kann, eine besser bezahlte Stelle zu finden. Das gilt auch dann, wenn der Unterhaltspflichtige überwiegend im Rahmen von geringfügigen Beschäftigungsverhältnissen i.S.v. § 8 Abs. 1 SGB IV gearbeitet hat.[60]

[57] BVerfG FamRZ 2014, 1977, 1978 Rn 17; BGH, FamRZ 2014, 1992, 1994; BGH FamRZ 2014, 637, 638 Rn 9; BGH FamRZ 2013, 1378, 1379 Rn 17 f.; BGH FamRZ 2011, 1041, 1043 Rn 29 ff.; BGH FamRZ 2009, 311, 313 Rn 20.
[58] BGH FamRZ 2014, 637, 638 Rn 11, 13 m.w.N.; Dose, in: Wendl/Dose, Das Unterhaltsrecht in der familienrichterlichen Praxis, 9. Aufl. 2015, § 1 Rn 784.
[59] BGH FamRZ 2014, 637 Rn 13 m.w.N.
[60] BGH FamRZ 2014, 637 ff. Rn 13; Dose, in: Wendl/Dose, Das Unterhaltsrecht in der familienrichterlichen Praxis, 9. Aufl. 2015, § 1 Rn 784 m.w.N.

2. Höhe

Dem Unterhaltspflichtigen darf auch bei einem Verstoß gegen seine Erwerbsobliegenheit nur ein Einkommen zugerechnet werden, welches von ihm nach realistischer Schätzung zu erzielen ist.[61] Hinsichtlich der Höhe der erzielbaren Einkünfte gilt als untere Grenze der jeweilige tarifliche Mindestlohn. Dieser ist nicht identisch mit dem gesetzlichen Mindestlohn von derzeit 8,50 EUR.[62] Die vom statistischen Bundesamt[63] erfassten Durchschnittslöhne in Deutschland weisen auch für ungelernte Arbeitskräfte einen deutlich höheren Bruttostundenlohn als 10 EUR aus.[64]

Bei der Bestimmung des erzielbaren Einkommens können auch besondere persönliche Kenntnisse und Fähigkeiten des Unterhaltspflichtigen Berücksichtigung finden, wie z.B. gesammelte Berufserfahrung, Kenntnisse aus einer ehrenamtlichen Tätigkeit (z.B. als Organisator in einer Jugendfreizeit). Der Unterhaltspflichtige muss Angaben zu seinem beruflichen Werdegang machen, um dem Gericht eine sachgerechte Schätzung nach § 287 ZPO zu ermöglichen.

Einschränkungen sind im vom Unterhaltsschuldner konkret darzulegenden Einzelfall möglich, z.B. bei einer Umschulung[65] oder bei eine...

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