Entscheidungsstichwort (Thema)
Aussetzung der Vollziehung eines nicht mit einem Leistungsgebot versehenen Haftungsbescheids. Arbeitnehmereigenschaft von Chefdirigenten/künstlerischen Leitern ernstlich zweifelhaft
Leitsatz (redaktionell)
1. Auch ein Haftungsbescheid, der nicht von Anfang an mit einem Leistungsgebot im Sinne von § 254 Abs. 1 Satz 1 AO verbunden ist, ist ein „vollziehbarer Verwaltungsakt” im Sinne von § 118 Satz 1 AO, denn er wird ggf. zu einem späteren Zeitpunkt durch den Erlass eines solchen Leistungsgebots „vollzogen”. Ein Antrag auf Aussetzung der Vollziehung eines solchen Bescheids ist zulässig.
2. Die genaue Einordnung der streitgegenständlichen Vertragsverhältnisse über die Beschäftigung als Chefdirigent und künstlerischer Leiter ist in der Rechtsprechung der verschiedenen Fachgerichtsbarkeiten umstritten. Eine finanzgerichtliche Entscheidung liegt – soweit ersichtlich – noch nicht vor. Die zu klärende Frage, ob Arbeitnehmereigenschaft und damit Verpflichtung zum Lohnsteuerabzug besteht, ist ernstlich zweifelhaft und im Aussetzungsverfahren nicht abschließend zu entscheiden.
Normenkette
FGO § 69 Abs. 3 S. 1, Abs. 2 S. 2; EStG § 42d Abs. 1 Nr. 1, Abs. 3, § 38 Abs. 3; AO § 254 Abs. 1 S. 1, § 118 S. 1, § 191 Abs. 1
Tenor
Die Vollziehung der beiden Haftungsbescheide vom 25. Februar 2019 wird ab Fälligkeit bis zum Ablauf eines Monats nach Bekanntgabe der betreffenden Einspruchsentscheidungen ausgesetzt.
Die Kosten des Verfahrens werden dem Antragsgegner auferlegt.
Die Beschwerde wird zugelassen.
Tatbestand
I.
Die Prozessbeteiligten streiten um die Frage, ob die Antragstellerin, ein Unternehmen in der Rechtsform einer (gemeinnützigen) GmbH, vom Antragsgegner wegen rückständiger Lohnsteuern sowie Solidaritätszuschlägen zur Lohnsteuer gemäß § 42 d des Einkommensteuergesetzes (EStG) in Haftung genommen werden kann.
Die GmbH ist eine Trägergesellschaft für vier Klangkörper:
B… C… D… E…
Bei den hier nicht streitgegenständlichen Musikern der o. g. Klangkörper, die nicht „Chef-Dirigenten” sind, handelt es sich unstreitig um Arbeitnehmer.
Für die Leitung der Klangkörper schloss die Antragstellerin mit mehreren Dirigenten sog.
„Chefdirigentenverträge” ab und behandelte diese Personen als freiberuflich tätige Künstler. Es wurde kein Lohnsteuerabzug vorgenommen.
Die Antragstellerin schloss z. B. mit Herrn F… aus G… am 25. September/1. Oktober 2009 einen Vertrag ab, der u. a. folgende Bestimmungen enthält:
„§ 1
(1) |
Herrn F… wird als Chefdirigent und Künstlerischer Leiter des C… für die Zeit vom 01.09.2011 bis 31.08.2016 tätig sein. |
(2) |
… |
(3) |
Herr F… trägt als Chefdirigent und Künstlerischer Leiter die künstlerische Verantwortung für das C… im Benehmen mit dem Intendanten, dieser ist uneingeschränkt von allen Planungen in Kenntnis zu setzen. Den Abschluss rechtsverbindlicher Geschäfte und Absprachen regelt die Geschäftsordnung für die Geschäftsführung der H… [= Antragstellerin], welche die Alleinvertretung durch den Intendanten voraussetzt. Die künstlerische Planung findet darüber hinaus ihre Grenzen dort, wo finanzielle Auswirkungen von den vorhandenen Mitteln der H… nicht getragen werden. |
(4) |
Der Dirigent wird dem C… zur Vorbereitung und Durchführung von Konzertveranstaltungen, Konzertreisen sowie Ton-, Bildträger-, Hörfunk- und Fernsehproduktionen nach den nachgenannten Bedingungen zur Verfügung stehen. |
§ 2
(1) |
Der Dirigent wird pro Spielzeit mindestens 16 Konzerte leiten. Tourneen sind hiervon nicht berührt. |
|
Die Saisonplanung hat dabei folgende Aufteilung: mindestens 8 – 10 Programme pro Saison |
(2) |
Weitere Konzerte pro Spielzeit sind mit dem Intendanten und der Orchesterdirektorin zu vereinbaren. |
(3) |
Tourneekonzerte zählen nicht zu Abs. 1 dieser Regelung. |
§ 3
(1) |
Die Konzerttermine, Programme sowie die Auswahl der daran beteiligten Dritten (z. B. Solisten, Chöre etc.) sowie die Spielzeitplanung insgesamt einschließlich der Tourneen legt der Künstlerische Leiter des C… mit der Orchesterdirektion fest, und zwar im Sinne der in § 1 Abs. 3 getroffenen Regelung der Zusammenarbeit mit dem Intendanten und der Notwendigkeit der Berücksichtigung der finanziellen Auswirkungen. |
(2) |
Übergeordnete, die H… betreffende künstlerische Planungen, etwa ein gemeinsames Festival der H… oder thematisch bezogene Konzertreihen werden zwischen dem Chefdirigenten und dem Intendanten besprochen und einvernehmlich festgelegt. |
(3) |
Die Besetzung von Musikerstellen erfolgt im Einvernehmen mit dem Chefdirigenten; er soll bei den maßgeblichen Probespielen in Aussicht genommener neuer Mitglieder des Orchesters zugegen sein. Nimmt Herr F… nicht am Probenspiel teil, gilt seine Zustimmung als erteilt, wenn er nicht innerhalb von zwei Wochen, nachdem ihm die Auswahlentscheidung mitgeteilt worden ist, seine Meinung gegenüber dem Intendanten äußert. An der Entscheidung über die unbefristete Fortführung eines Probearbeitsvertrages eines Musikers/einer Musikerin wird Herr F… beteiligt. |
(4) |
Es besteht Einigkeit darüber, dass Herr F… bereits ab dem Wirtschaftsjahr... |