rechtskräftig
Entscheidungsstichwort (Thema)
Kein Kindergeldanspruch einer ausländerrechtlich nur geduldeten türkischen Staatsangehörigen ohne Arbeitserlaubnis
Leitsatz (redaktionell)
1. Eine wegen fehlender Qualifikation für eine Erwerbstätigkeit nicht vermittelbare türkische Staatsangehörige hat für vor 2005 liegende Zeiträume, in denen sie nur im Besitz einer aufenthaltsrechtlichen Duldung ohne Arbeitserlaubnis war, weder nach § 62 Abs. 2 EStG (in seiner auch rückwirkend anwendbaren Fassung vom 13.12.2006) noch nach Art. 8, 14 EMRK noch von Verfassungs wegen noch nach Art. 3 Abs. 1 des Assoziationsratsbeschlusses EWG/Türkei Nr. 3/80 vom 19.9.1980 (ABl EG 1983, C 110/60) noch nach dem Vorläufigen Europäischen Abkommen vom 11.12.1953 über Soziale Sicherheit unter Ausschluss der Systeme für den Fall des Alters, der Invalidität und zu Gunsten der Hinterbliebenen (BGBl II 1956, 507, i.V.m. Art. 2 des Zusatzprotokolls, BGBl II 1956, 507) einen Kindergeldanspruch.
2. I. S. d. Vorläufigen Europäischen Abkommen v. 11.12.1953 über Soziale Sicherheit unter Ausschluss der Systeme für den Fall des Alters, der Invalidität und zu Gunsten der Hinterbliebenen „wohnt” eine Person an dem Ort, an dem sie sich für wenigstens sechs Monate aufgehalten hat und für gewöhnlich aufhält, verbunden mit der Berechtigung, sich dort dauerhaft aufzuhalten; ein ausländerrechtlich nur geduldeter Aufenthalt begründet daher kein „Wohnen” i. S. d. Abkommens.
3. § 62 Abs. 2 EStG i. d. F. v. 13.12.2006 ist verfassungskonform.
Normenkette
EStG 2007 § 62 Abs. 2 Nr. 2 Buchst. a, b, Nr. 3, § 52 Abs. 61a S. 2; AuslG 1999 §§ 55-56; EMRK Art. 8, 14; GG Art. 3 Abs. 1, Art. 6 Abs. 1; Beschluss EWG/Türkei Nr. 3 /80 Art. 3 Abs. 1; Vorläufiges Europäischen Abkommen über Soziale Sicherheit unter Ausschluss der Systeme für den Fall des Altersder Invalidität und zu Gunsten der Hinterbliebenen Art. 1-2, 1 16; AO §§ 8-9
Tenor
Die Klage wird abgewiesen.
Die Kosten des Verfahrens trägt die Klägerin.
Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand
Die Klägerin ist türkische Staatsangehörige und begehrt, die Beklagte zur Festsetzung von Kindergeld für die Kinder … – im Folgenden auch: „B.”),… – im Folgenden auch: „Z.”),… – im Folgenden auch: „S.”) und … – im Folgenden auch: „M.”) für die Monate September und Oktober 2003 in Höhe von insgesamt 1.282 EUR zu verpflichten. Sie war in den streitigen Monaten im Besitz einer aufenthaltsrechtlichen Duldung ohne Arbeitserlaubnis (KGA 11,14). Auch faktisch war sie wegen fehlender Qualifikation für eine Erwerbstätigkeit nicht vermittelbar (Schriftsatz Ihres Prozessbevollmächtigten v. …, GA 77,79).
Die Klägerin reiste mit ihrer Familie (seinerzeit noch H.A. und B.) … 1988 in das Bundesgebiet ein. In der Folgezeit betrieben die Klägerin und ihr Ehemann – auch unter dem falschen Nachnamen Al Zein mit angeblich libanesischer Staatsangehörigkeit – letztlich ohne Erfolg zwei Asylverfahren zur Anerkennung als politische Flüchtlinge. Die Kinder Z. S. und M. wurden in Bremen geboren (KGA 20). Obwohl die Klägerin und ihre Familie nicht als Flüchtlinge anerkannt wurden, unterblieb eine Ausweisung und Abschiebung im Hinblick auf Art. 6 Abs. 1 GG, weil eine Rückführung in die Türkei nur gemeinsam mit den Kindern hätte durchgeführt werden können.
Die Identitäten der Klägerin und ihres Ehemannes sowie die türkische Staatsangehörigkeit der Familie sind mittlerweile geklärt (KGA 15 ff.). Nach Aktenlage haben sich die Klägerin und ihre Familie in den Jahren seit der Einreise im Jahr 1988 überwiegend in Deutschland (Bremen) aufgehalten (vgl. KGA 1-5, 14, 28, 31, 35 ff., 47).
Im September 2003 stellte die Klägerin unter Mitwirkung ihres Ehemannes einen Antrag auf Kindergeld für die Kinder B., Z., S. und M., der bei der Beklagten am … 2003 einging. Die Beklagte lehnte den Antrag mit Bescheid vom … 2005, der an die Klägerin als Adressatin gerichtet war (KGA 96), mit der Begründung ab, ein Ausländer erhalte Kindergeld nur, wenn er im Besitz einer Niederlassungserlaubnis, Aufenthaltserlaubnis zum Zwecke der Erwerbstätigkeit, Aufenthaltserlaubnis nach §§ 25 Abs. 1 und 2, 31, 37, 38 des Aufenthaltsgesetzes (AufenthG) oder Aufenthaltserlaubnis zum Zwecke des Familiennachzugs sei. Sie – die Klägerin – erfülle keine dieser Voraussetzungen und habe deshalb keinen Anspruch auf Kindergeld nach dem EStG.
Die Klägerin legte gegen diesen Bescheid unter dem … 2005 durch ihren Prozessbevollmächtigten Einspruch ein (KGA 98), der wie folgt begründet wurde (KGA 101 ff.):
Das Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) habe in seinem Beschluss vom 06. Juli 2004 (1 BvL 4/97 – BVerfGE 111, 160 = BFH/NV 2005, Beilage 2, 114) den mit § 62 Abs. 2 EStG (alte Fassung) nahezu wortgleichen § 1 Abs. 3 BKKG 1993 als unvereinbar mit Art. 6 Abs. 1 und/oder Art. 3 Abs. 1 GG angesehen, soweit darin die Gewährung von Kindergeld allein von der Art der ausländerrechtlichen Genehmigung nach dem AuslG 1990 abhänge. Der Gesetzgeber habe auch bis dato keine den Vorgaben des BVerfG entsprechende Neuregelung geschaffen...