Entscheidungsstichwort (Thema)
Ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit eines unter anderem auf dem Steuerpflichtigen nicht bekannten Unterlagen der Steuerfahndung beruhenden Lohnsteuerhaftungsbescheids bei unterbliebener Mitteilung der Besteuerungsgrundlagen im Einspruchsverfahren. Inhalt, Umfang des Anspruchs nach § 364 AO und Konkurrenz zum Anspruch auf Akteneinsicht
Leitsatz (redaktionell)
1. Es bestehen ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit eines aufgrund von Feststellungen der Steuerfahndung ergangenen Lohnsteuerhaftungsbescheids, wenn der Bericht der Steuerfahndung hinsichtlich der zentralen Feststellungen auf dem Steuerpflichtigen nicht bekannte Beweismittelordner und Anlagen Bezug nimmt, diese Feststellungen in dem Bericht selbst nur knapp zusammengefasst enthalten sind, das Finanzamt dem im Einspruchsverfahren gestellten Antrag des Steuerpflichtigen, ihm die Besteuerungsunterlagen gemäß § 364 AO mitzuteilen, nicht nachgekommen ist und der Steuerpflichtige somit keine Möglichkeit hatte, Kenntnis von den Besteuerungsunterlagen zu nehmen.
2. Unterlagen im Sinne des § 364 AO sind alle Beweismittel und Beweisergebnisse im weiteren Sinne, die geeignet sind, das Ergebnis des Verfahrens zu beeinflussen. Darunter fallen alle Schriftstücke und Daten, insbesondere alle Beweismittel und Beweisergebnisse, wie etwa Zeugenaussagen, Bewertungs- und Schätzungsunterlagen, Berechnungsgrundlagen und Amtshilfemitteilungen jeglicher Art.
3. Dem als Haftenden in Anspruch Genommenen ist der Akteninhalt auf Antrag – oder von Amts wegen, wenn die Einspruchsbegründung dazu Anlass gibt – insoweit zugänglich zu machen, als die zu offenbarenden Verhältnisse für die Heranziehung als Haftender erheblich sein können.
4. Der Anspruch aus § 364 AO und der Anspruch auf Akteneinsicht stehen grundsätzlich selbständig nebeneinander. Zwar kann der Mitteilungsanspruch mit Einverständnis des Beteiligten auch durch die Gewährung der Akteneinsicht erfüllt werden, solange allerdings noch keine Akteneinsicht genommen worden ist, ist das Rechtsschutzbedürfnis des Beteiligten für einen Antrag im Sinne des § 364 AO nicht entfallen. Ungeachtet dessen lässt selbst eine erfolgte Akteneinsichtnahme im Strafverfahren das Rechtsschutzbedürfnis nicht grundsätzlich entfallen.
5. Das Einspruchsverfahren leidet, wenn und solange die Finanzbehörde der Mitteilung nach § 364 AO nicht nachkommt, an einem Verfahrensmangel, der sich indes erst mit Erlass der Einspruchsentscheiddung manifestiert. Die Verletzung der Mitteilungspflicht führt zur Rechtswidrigkeit der Einspruchsentscheidung, sofern diese nicht nach § 126 Abs. 1 Nr. 3 AO durch eine Nachholung der Anhörung geheilt wird.
Normenkette
FGO § 69 Abs. 2 S. 2, Abs. 3 S. 1, Abs. 4 S. 1, § 102 S. 1; EStG § 42d Abs. 1; AO § 191 Abs. 1 S. 1, §§ 5, 364, 366; GG Art. 103 Abs. 1
Tenor
Die Vollziehung des Lohnsteuerhaftungsbescheides vom 15. November 2019 wird bis zum Ablauf eines Monats nach Bekanntgabe der Einspruchsentscheidung ausgesetzt bzw. aufgehoben.
Die Kosten des Verfahrens werden dem Antragsgegner auferlegt.
Die Entscheidung ergeht unanfechtbar.
Tatbestand
I.
Der Antragsteller betreibt ein Taxiunternehmen. Nach einer anonymen Anzeige (Steufa BMO 1, Bl. 1) vom 24. Januar 2014 führten das Hauptzollamt Saarbrücken – Finanzkontrolle Schwarzarbeit (FKS) und die Steuerfahndungsstelle beim Finanzamt Saarbrücken – Mainzer Straße (Steuerfahndung) Ermittlungen gegen den Antragsteller durch. Bei einer Durchsuchung im März 2015 stellte die FKS Aufzeichnungen (Abrechnungslisten, Wochenzettel) über Lohnzahlungen für den Zeitraum August bis Dezember 2014 sicher. Die FKS entnahm diesen Unterlagen, dass verschiedene Arbeitnehmer des Antragstellers höhere Lohnzahlungen als die in der Lohnbuchhaltung erfassten Beträge erhalten hatten und dass weitere Arbeitnehmer überhaupt nicht in der Lohnbuchhaltung erfasst waren.
Die Steuerfahndung fasste zunächst unter dem 16. September 2019 „Schwarzlohnzahlungen 2014” für lohnsteuerliche Zwecke zusammen. Sie berücksichtigte dabei die Löhne der Monate August bis September 2014, für einen Arbeitnehmer zusätzlich auch die Löhne der Monate April bis Juli 2014. Zur Berechnung der Lohnsteuer griff die Steuerfahndung dabei auf die in der Lohnbuchhaltung vermerkten Besteuerungsmerkmale der jeweiligen Arbeitnehmer zurück; bei den nicht in der Lohnbuchhaltung erfassten Arbeitnehmern erfolgte die Berechnung auf Basis der Steuerklasse VI. Nach weiteren Ermittlungen kam die Steuerfahndung zu dem Schluss, dass der Antragsteller mindestens seit 2011 seinen Arbeitnehmern eine Umsatzbeteiligung in Höhe von rund 45 % des von dem jeweiligen Arbeitnehmer erwirtschafteten Erlöses ausbezahlt hatte und dieser Zahlungen weder der Lohnsteuer unterworfen noch in den Erlösen des Unternehmens erfasst worden waren. Ausgehend hiervon ermittelte die Steuerfahndung die unversteuerten Löhne der Jahre 2011-2013 und der Monate Januar bis Juli 2014 im Wege der Schätzung nach § 162 AO und fasste diese in ihrem Bericht vom 30. Septe...