Entscheidungsstichwort (Thema)
Kindergeldanspruch einer in Deutschland wohnenden und erwerbstätigen EU-Ausländerin bei Haushaltsaufnahme des Kindes im Haushalt der Großeltern in einem anderen EU-Staat
Leitsatz (redaktionell)
1. Einer in Deutschland wohnenden und als Arbeitnehmerin tätigen Staatsangehörigen eines anderen EU-Landes (hier: Polen) steht auch dann deutsches Kindergeld zu, wenn ihr Kind im Haushalt der Großeltern in einem anderen EU-Mitgliedstaat lebt (hier: Polen) und weder die Großeltern noch der ebenfalls in dem anderen EU-Staat lebende Kindesvater in diesem EU-Land einen Antrag auf Familienleistungen gestellt haben; der Kindergeldanspruch der Kindesmutter wird weder nach § 64 Abs. 2 S. 1 EStG bzw. § 3 Abs. 2 S. 1 BKGG ausgeschlossen, wenn die Großeltern nicht die Anspruchsvoraussetzungen gemäß § 62 Abs. 1 EStG bzw. § 1 Abs. 1 BKGG erfüllen, noch nach Art. 67, 68 der VO (EG) Nr. 883/2004 i.V.m. Art. 58 ff. der VO (EG) Nr. 987/2009.
2. Art. 68 Abs. 1 Buchst. a der VO (EG) Nr. 883/2004 ist so zu verstehen, dass an erster Stelle die Ansprüche in dem Mitgliedstaat zu erfüllen sind, dessen Rechtsvorschriften ein Elternteil aufgrund seiner Erwerbstätigkeit unterliegt, an zweiter Stelle die Ansprüche in dem Mitgliedstaat, nach dessen Rechtsvorschriften ein Elternteil eine Rente bezieht, und an dritter Stelle die Ansprüche in dem Mitgliedstaat, in dem ein Elternteil oder beide Eltern wohnen, wenn sie weder dort noch in einem anderen Mitgliedstaat erwerbstätig sind und auch keine Rente beziehen.
Normenkette
EStG § 62 Abs. 1 Nr. 1, § 63 Abs. 1 S. 1 Nr. 1, § 64 Abs. 2 S. 1, § 65 Abs. 1 S. 1 Nr. 2; EGV 883/2004 Art. 1 Buchst. z; EGV 883/2004 Art. 11 Abs. 1 Sätze 1-2; EGV 883/2004 Art. 11 Abs. 3 Buchst. a; EGV 883/2004 Art. 67 S. 2; EGV 883/2004 Art. 68 Abs. 1 Buchst. a; EGV 987/2009 Art. 58; EGV 987/2009 Art. 60 Abs. 1 S. 2; BKGG § 1 Abs. 1, § 3 Abs. 2 S. 1
Tenor
1. Der Bescheid der Familienkasse vom 16. Februar 2011, soweit darin die Festsetzung des Kindergeldes für das Kind K ab September 2010 der Höhe nach über die polnischen Familienleistungen (21,96 EUR pro Monat) hinaus aufgehoben wurde, in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 17. März 2011 wird aufgehoben.
2. Die Kosten des Verfahrens tragen die Beklagte zu 88 % und die Klägerin zu 12 %.
3. Das Urteil ist im Kostenpunkt für die Klägerin vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte darf durch Sicherheitsleistung in Höhe der zu erstattenden Kosten der Klägerin die Vollstreckung abwenden, wenn nicht die Klägerin vor der Vollstreckung Sicherheit in derselben Höhe leistet.
4. Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand
I.
Die in Deutschland lebende, im Angestelltenverhältnis erwerbstätige Klägerin ist die Mutter des am 18. Februar 1994 geborenen Kindes K., das nicht in den Haushalt der Klägerin aufgenommen ist, sondern in den Haushalt der Großeltern in Polen, wo K. eine Schule besucht. Der Kindsvater lebt ebenfalls in Polen.
Mit Bescheid vom 12. August 2010 hob die Beklagte (Familienkasse) die Festsetzung des Kindergeldes ab September 2010 auf. Eine Bezeichnung des aufgehobenen Verwaltungsakts erfolgte nicht. Zur Begründung führte die Familienkasse aus: Nach § 64 Abs. 1 des Einkommensteuergesetzes (EStG) werde für jedes Kind nur einer Person Kindergeld gezahlt. Die Großmutter … habe das Kind in ihren Haushalt aufgenommen. Sie habe somit den vorrangigen Anspruch auf Kindergeld (§ 64 Abs. 2 Satz 1 EStG). Ab dem 1. Mai 2010 seien die Vorschriften der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit (VO [EG] Nr. 883/2004) anzuwenden. Danach sei der Kindergeldanspruch jeweils nach dem nationalen Kindergeldrecht des EU-Staats zu beurteilen, dessen Rechtsvorschriften vorrangig anzuwenden seien. Im Fall der Klägerin seien die Rechtsvorschriften der Bundesrepublik Deutschland vorrangig anzuwenden. Danach sei die Klägerin nicht vorrangig Kindergeldberechtigte. Gegen diesen Bescheid legte die Klägerin keinen Einspruch ein.
Unter dem 16. Februar 2011 erließ die Familienkasse einen weiteren Bescheid, u.a. mit folgendem Wortlaut: „… Ihrem Antrag auf Kindergeld vom 29.06.2010 wird entsprochen und das Kindergeld wie folgt monatlich festgesetzt:
Name |
Geburtsdatum |
Betrag |
Zeitraum |
K. |
18.02.1994 |
184,00 EUR |
von Mai 2010 bis August 2010 |
Begründung:
Ihre Tochter lebt bei den Großeltern in Polen. Die Großeltern und der Kindsvater haben in Polen keinen Antrag auf Familienleistungen gestellt.
Die Aufhebung des Kindergeldes ab September 2010 (siehe Bescheid vom 12.08.2010) bleibt aufgrund einer Rechtsänderung bestehen.
Für den Zeitraum von Mai 2010 bis August 2010 erfolgt in Kürze eine Nachzahlung des Kindergeldes in Höhe von 736,00 EUR …”
Der Einspruch gegen den Bescheid vom 16. Februar 2011, beschränkt auf die Aufhebung des Kindergeldes ab September 2010, hatte keinen Erfolg.
Mit der Klage macht die Klägerin geltend, sie sei Anspruchsberechtigte nach § 62 Abs. 1 Nr. 1 EStG. Sie habe ihren Wohnsitz innerhalb d...