Entscheidungsstichwort (Thema)
Verfassungs- oder Unionsrechtswidrigkeit von Säumniszuschlägen
Leitsatz (redaktionell)
1. Die Höhe der Säumniszuschläge begegnet jedenfalls für Veranlagungszeiträume bis einschließlich 2018 keinen erheblichen verfassungsrechtlichen Bedenken, soweit mit der Norm des § 240 AO auch Zinsvorteile des Steuerpflichtigen ausgeglichen werden.
2. Vor dem 1.1.2019 entstandene Säumniszuschläge zur Umsatzsteuer verstoßen nicht gegen das mehrwertsteuerrechtliche Neutralitätsprinzip, denn der Grundsatz der Belastungsneutralität gilt nicht für steuerliche Nebenleistungen.
3. Selbst wenn man für Zinsen und Säumniszuschläge zur Umsatzsteuer den mehrwertsteuerrechtlichen Neutralitätsgrundsatz gelten ließe, würden vor dem 1.1.2019 entstandene Säumniszuschläge nicht hiergegen verstoßen, weil die mit den Säumniszuschlägen verfolgten Ziele letztlich auch der Bekämpfung von Steuerhinterziehungen, Steuerumgehungen und Missbräuchen im Bereich des harmonisierten Mehrwertsteuerrechts dienen.
Normenkette
AO § 3 Abs. 4, §§ 233a, 238 Abs. 1 S. 1, § 240 Abs. 1 S. 1; MwStSystRL Art. 273, 401; GG Art. 3 Abs. 1
Tatbestand
I.
Streitig ist die Aufhebung der Vollziehung der in den angefochtenen Abrechnungsbescheiden ausgewiesenen Säumniszuschläge wegen Verfassungswidrigkeit oder Unionsrechtswidrigkeit des § 240 Abgabenordnung (AO).
Auf Antrag der Antragstellerin erließ der Antragsgegner am 26.04.2022 Abrechnungsbescheide über Umsatzsteuer und Säumniszuschläge zur Umsatzsteuer. Als entstandene Säumniszuschläge zur Umsatzsteuer wurde abgerechnet:
- 09/2013 in Höhe von 29 € (für den Zeitraum vom 30.12.2013 bis 28.02.2014),
- 11/2013 in Höhe von 5 € (für den Zeitraum vom 30.12.2013 bis 28.02.2014),
- 12/2013 in Höhe von 36 € (für den Zeitraum vom 24.02.2014 bis 23.04.2014),
- II/2015 in Höhe von 16 € (für den Zeitraum vom 10.07.2015 bis 09.08.2015).
Laut den Abrechnungsbescheiden waren die Säumniszuschläge zur Umsatzsteuer jeweils bereits bezahlt.
Gegen die Bescheide legte die Antragstellerin Einspruch ein und verwies auf die verfassungsrechtlichen Zweifel an der Höhe der Säumniszuschläge. Das Einspruchsverfahren ruht gemäß § 363 Abs. 2 Satz 1 AO mit Blick auf das Revisionsverfahren vor dem Bundesfinanzhof zum Aktenzeichen VII R 55/20.
Nach einer abschlägigen Entscheidung des Antragsgegners über die dort beantragte Aussetzung bzw. Aufhebung der Vollziehung hat die Antragstellerin den vorliegenden Antrag auf Aufhebung der Vollziehung gestellt. Dieser wurde zunächst beim 4. Senat des Gerichts unter dem Aktenzeichen 4 V 1370/22 und nunmehr beim 5. Senat unter dem Aktenzeichen 5 V 1370/22 geführt.
Zur Begründung ihres Antrags auf Aufhebung der Vollziehung nimmt die Antragstellerin zunächst Bezug auf die Beschlüsse des Bundesfinanzhofs (BFH) vom 31.08.2021 (VII B 69/21) und des Finanzgerichts (FG) Münster vom 16.12.2021 (12 V 2684/21), 14.02.2022 (8V 2789/21), 23.02.2022 (15 V 202/22), 28.02.2022 (8 V 197/22), 03.03.2022 (4 V 194/22, 4 V 196/22, 4 V 391/22) sowie vom 04.03.2022 (4 V 195/22) und trägt ergänzend vor, dass die in den angefochtenen Abrechnungsbescheiden ausgewiesenen, nach dem 31.12.2013 entstandenen Säumniszuschläge zur Umsatzsteuer sowohl verfassungswidrig also auch unionsrechtswidrig seien. Die abschließende Prüfung der Verfassungsmäßigkeit und Unionsrechtsmäßigkeit der Säumniszuschläge unter Berücksichtigung der von der Rechtsprechung aufgestellten Rechtsgrundsätze sei dem Hauptsacheverfahren vorzubehalten, so dass eine Aufhebung der Vollziehung zu gewähren sei.
Zur Verfassungswidrigkeit der in den Abrechnungsbescheiden ausgewiesenen Säumniszuschläge trägt die Antragstellerin vor, dass die vom Bundesverfassungsgericht (BVerfG) festgestellte Verfassungswidrigkeit der Zinsen nach § 233a i.V.m. § 238 AO auf die Säumniszuschläge ausstrahle und deren Verfassungswidrigkeit ebenfalls begründe. Denn es sei davon auszugehen, dass in den Säumniszuschlägen ein Zinsanteil enthalten sei, welcher entsprechend der Entscheidung des BVerfG für die Vollverzinsung für die Jahre 2014-2018 verfassungswidrig hoch sei. Der Aufbau eines Systems der Zinsen und Zuschläge im Sinne der Folgerichtigkeit des gesetzgeberischen Handelns könne nicht isoliert beurteilt werden; die Verfassungswidrigkeit der einen Norm strahle auf die andere aus. Die Haushaltsgründe, die dazu geführt hätten, dass die Zinsen nach § 233a AO auch für die Jahre 2014-2018 weiter angewendet werden dürften, hätten für die Säumniszuschläge kein entsprechendes Gewicht.
Zur Unionsrechtswidrigkeit der in den Abrechnungsbescheiden ausgewiesenen Säumniszuschläge trägt die Antragstellerin vor, dass die Regelungen in §§ 238, 240 AO in einem unionsrechtlichen Kontext zu beurteilen seien. Es handele sich zwar um Regelungen des nationalen Verfahrensrechts, für das aus unionsrechtlicher Sicht grundsätzlich die Verfahrensautonomie der Mitgliedstaaten gelte. Diese Autonomie werde jedoch, wie der Europäische Gerichtshof (EuGH) z.B. in seinen Urteilen vom 02.05.2018 (C-574/15), vom 28.07.2016 (C-332/15