Entscheidungsstichwort (Thema)
Kindergeld für eine in Deutschland arbeitende Polin mit einem bei der Großmutter in Polen lebendes, volljähriges Kind
Leitsatz (redaktionell)
Einer in Deutschland arbeitenden Arbeitnehmerin steht für ihr in Polen bei deren Großmutter lebendes, volljähriges Kind Kindergeld zu, das sich nach den deutschen Regelungen in der erstmaligen Berufsausbildung befindet. Die Revision wird zugelassen.
Normenkette
VO (EG) Nr. 883/2004 Art. 11 Abs. 3 Buchst. a; EStG § 32 Abs. 4 S. 1 Nr. 2 a, § 63 Abs. 1 S. 3
Nachgehend
BFH (Urteil vom 23.08.2016; Aktenzeichen V R 35/13) |
Tatbestand
Streitig ist, ob für eine in Deutschland als Arbeitnehmerin beschäftigte polnische Staatsbürgerin für ein in Polen im Haushalt der Großmutter aufgenommenes Kind mit Wirkung ab Mai 2010 Kindergeld festzusetzen ist.
Die Klägerin stammt aus Polen und besitzt die polnische Staatsangehörigkeit. Von ihrem Ehemann ist sie seit 2007 geschieden. Aus der Ehe ist die am 14.04.1992 geborene Tochter L. hervorgegangen. Der Kindesvater hat in Polen eine neue Familie gegründet. Seit dem 21.08.2010 ist er mit seiner Ehefrau M. verheiratet. Sie haben zwei Kinder. In dessen Person bestand für L. im Jahr 2005 in Polen kein Anspruch auf Kindergeld nach den polnischen Rechtsvorschriften (Bl. 34 ff. Kg-Akten). Die Fragen, ob er im streitigen Zeitraum ab Mai 2010 eine nichtselbständige Tätigkeit ausgeübt hat, in welcher Höhe er ggf. ein Entgelt erzielt hat, ob er Lohnersatzleistungen bezogen hat, ob er selbständig oder gewerblich tätig gewesen ist, sowie ob er Renteneinkünfte hatte oder keinerlei Einnahmen, sind unbeantwortet geblieben. Nach einem gerichtlichen Vergleich vom 03.03.2010 ist der Kindesvater zur Zahlung von Unterhalt in Höhe von 300 Zloty/Monat an die Tochter L. verpflichtet. Nach den ergänzenden Angaben der Klägerin ist in Polen aktuell ein weiterer Prozess anhängig, weil der Kindesvater seinen Verpflichtungen nicht regelmäßig nachkommt und der vereinbarte Unterhalt zu gering ist.
Als Staatsangehörige eines Mitgliedstaates der Europäischen Union ist die Klägerin nach Maßgabe des Freizügigkeitsgesetzes/EU zur Einreise und zum Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland berechtigt. Sie wohnt bei ihrem Lebenspartner B. L1. unter der Adresse M1.-Straße 01 in C.. Als Angestellte im Betrieb ihres Lebenspartners „…” erzielt sie sozialversicherungspflichtige Einkünfte aus nicht selbstständiger Arbeit (vgl. Bl. 57 und 58 der FG-Akten) sowie – nebenberuflich – seit dem 01.01.2005 gewerbliche Einkünfte als ….
Für die Tochter L. erhielt die Klägerin fortlaufend bis zur Vollendung des 18. Lebensjahrs im April 2010 auf der Grundlage des § 32 Abs. 3 Einkommensteuergesetz (EStG) Kindergeld ausbezahlt. Die Tochter hat in Polen die Schule besucht und absolvierte seit September 2008 bis Juni 2012 eine Ausbildung im „…” in K1.. Während der Schul- und Ausbildungszeiten lebte die Tochter in Polen bei der Großmutter (Mutter der Klägerin) B1. M2.. Fördermittel im Zusammenhang mit ihrer Ausbildung hat die Tochter nicht erhalten.
Am 08.11.2010 beantragte die Klägerin die weitere Festsetzung von Kindergeld über den Zeitraum Mai 2010 hinaus. Mit Bescheid vom 13.12.2010 hob die Bundesagentur für Arbeit – Familienkasse – C. unter Hinweis auf § 70 Abs. 3 Einkommensteuergesetz (EStG) die Festsetzung von Kindergeld für das Kind L. mit Wirkung ab Mai 2010 auf. Zur Begründung verwies sie darauf, dass nach § 64 Abs. 1 EStG für jedes Kind nur einer Person Kindergeld gezahlt werde. Erfüllten für ein Kind mehrere Personen die Anspruchsvoraussetzungen, so werde das Kindergeld derjenigen Person gewährt, die das Kind in ihren Haushalt aufgenommen habe (§ 64 Abs. 2 Satz 1 EStG). Im Streitfall lebe die Tochter L. nicht im Haushalt der Klägerin, sondern bei der Großmutter in Polen.
Im Verfahren über den hiergegen eingelegten Einspruch änderte die Familienkasse am 19.01.2011 den Bescheid vom 13.12.2010 dahingehend, dass der Antrag auf Kindergeld vom 08.11.2010 für das Kind L. mit Wirkung ab Mai 2010 abgelehnt wurde. Im Übrigen war die Begründung hierfür mit der im Bescheid vom 13.12.2010 identisch.
Den Einspruch wies die Familienkasse mit der Einspruchsentscheidung (EE) vom 27.01.2011 als unbegründet zurück. Die Frage, ob deutsches Kindergeldrecht überhaupt anwendbar sei, bestimme sich im Verhältnis zu anderen Staaten der Europäischen Union (EU) bzw. des Europäischen Wirtschaftsraums (EWR) nach den Regelungen der Verordnung (EWG) 1408/71 (VO) bzw. der hierzu ergangenen Durchführungsverordnung (EWG) 574/72 (DVO). Diese Verordnungen gingen als überstaatliche Vorschriften der Deutschen Rechtsordnung vor und seien in Deutschland unmittelbar geltendes Recht. Seit dem 01.05.2010 seien die Verordnungen EG Nr. 883/2004 und 987/2009 in Kraft getreten. Danach sei Deutschland vorrangig für die Gewährung des Kindergeldes zuständig, da sie, die Klägerin, in Deutschland eine versicherungspflichtige Beschäftigung ausübe. Die am 14.04.1992 geborene Tochter L. lebe jedoch nicht in ihrem, der Kli...