Voraussetzungen einer sittenwidrigen besonderen Härte der Zwangsvollstreckung
Nach § 765a ZPO kann das Vollstreckungsgericht eine Maßnahme der Zwangsvollstreckung ganz oder teilweise aufheben, untersagen oder einstweilen einstellen, wenn die Maßnahme unter voller Würdigung des Schutzbedürfnisses des Gläubigers wegen ganz besonderer Umstände eine Härte bedeutet, die mit den guten Sitten nicht vereinbar ist.
Aufgrund des Ausnahmecharakters dieser Vorschrift genügen die normalerweise mit einer Zwangsräumung verbundenen Härten nicht. Vielmehr müssen ganz besondere Umstände, die mit der Art oder dem Zeitpunkt der Zwangsvollstreckungsmaßnahme zusammenhängen, hinzutreten. Anzuwenden ist § 765a ZPO auch dann nur, wenn im Einzelfall die Maßnahme nach Abwägung der beiderseitigen Belange zu einem untragbaren Ergebnis führen würde (BGH NJW 2005, 1859 m.w.N.; LG Lübeck Rpfleger 2004, 435).
Gesundheitsschäden und Lebensgefahr vor dem Hintergrund der Verfassung zu beurteilen
Im Falle der Geltendmachung drohender Gesundheits- oder Lebensgefahr hat das Vollstreckungsgericht bei der Prüfung der Voraussetzungen des § 765a ZPO auch die Wertentscheidungen des Grundgesetzes und das Grundrecht des Schuldners aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG zu berücksichtigen. Ergibt die erforderliche Abwägung, dass die der Zwangsvollstreckung entgegenstehenden, unmittelbar der Erhaltung von Leben und Gesundheit dienenden Interessen des Schuldners im konkreten Fall erheblich schwerer wiegen als die Belange, deren Wahrung die Vollstreckungsmaßnahme dienen soll, so kann der trotzdem erfolgende Eingriff das Prinzip der Verhältnismäßigkeit und des Grundrechts des Schuldners aus Art. 1 Abs. 2 S. 1 GG verletzen.
Erforderlich: Interessenabwägung
Selbst dann, wenn mit einer Zwangsvollstreckung eine konkrete Gefahr für Leben und Gesundheit des Schuldners verbunden ist, kann aber eine Maßnahme der Zwangsvollstreckung nicht ohne Weiteres einstweilen eingestellt werden. Erforderlich ist stets die Abwägung der Interessen des Betroffenen mit den – nach § 765a Abs. 1 S. 1 ZPO voll zu würdigenden – Schutzbedürfnissen des Gläubigers. Bei dieser Interessenabwägung ist zu beachten, dass sich auch der Gläubiger auf Grundrechte, insbesondere den Schutz seines Eigentums nach Art. 14 S. 1 GG berufen kann. Die Aufgabe des Staates, das Recht zu wahren, umfasst die Pflicht, titulierte Ansprüche notfalls mit Zwang durchzusetzen und dem Gläubiger wirksam zu seinem Recht zu verhelfen. Dem Gläubiger dürfen nicht die Aufgaben aufgebürdet werden, die aufgrund des Sozialstaatsprinzips dem Staat und damit der Allgemeinheit obliegen.
Die Aufgabe: alternative Schutzmechanismen
Es ist deshalb auch dann, wenn bei einer Räumungsvollstreckung eine konkrete Gesundheits- oder Suizidgefahr für einen Betroffenen besteht, sorgfältig zu prüfen, ob dieser Gefahr nicht auch auf andere Weise als durch Einstellung der Zwangsvollstreckung begegnet werden kann. Nicht zuletzt ist aber auch der Gefährdete selbst gehalten, alles ihm Zumutbare zu tun, um die Risiken, die für ihn im Falle der Vollstreckung bestehen, zu verringern. Dazu kann gehören, fachliche Hilfe – ggf. auch durch einen stationären Klinikaufenthalt – in Anspruch zu nehmen, um die Gesundheits- oder Lebensgefahr auszuschließen oder zu verringern (BGH a.a.O.). Eine Gesundheits- oder Lebensgefahr begründet nicht als solche eine sittenwidrige Härte, sondern sie ist nur ein gewichtiger Umstand, der in die Abwägung der gegenläufigen Interessen einzubeziehen ist. Ferner sind das sonstige Verhalten des Schuldners in der Zwangsvollstreckung und – im Interesse des Gläubigers – die Dauer des bisherigen Verfahrens zu berücksichtigen (OLG Köln NJW 1993, 2248).
Schuldner ist in der Darlegungs- und Beweislast
Es obliegt dem Schuldner, die tatsächlichen Voraussetzungen für den begehrten Räumungsschutz darzulegen. Der Schuldner muss die Gesundheitsgefährdung und den Kausalzusammenhang zwischen der anstehenden Zwangsräumung und seiner Gefährdung substantiiert darlegen und die hinreichende Wahrscheinlichkeit dieser Voraussetzung beweisen (LG Lübeck a.a.O.). Die behauptete Gefahr muss für das Vollstreckungsgericht anhand objektiv feststellbarer Merkmale mit hinreichender Wahrscheinlichkeit festgestellt werden können (OLG Köln a.a.O.). Dazu ist bei Gesundheits- oder Lebensgefahren in der Regel ein fachärztliches Attest notwendig, das aussagekräftig ist und für das Gericht nachvollziehbar macht, aufgrund welcher Zusammenhänge ein Risiko besteht, wie hoch die Gefahr von dessen Realisierung einzuschätzen ist und welche Schritte zur Risikoverringerung möglich sind und was der Betroffene bisher dazu unternommen hat.
Folgen von Covid-19 begründen (vielfach) keine schwerwiegenden Gesundheitsgefahren
Im vorliegenden Fall belegt das Attest vom 5.4.2022 schon keine durch die Räumung bedingte schwerwiegende Gefahr für die Gesundheit des Schuldners. Weder beinhaltet es eine konkrete Diagnose, sondern bescheinigt dem Schuldner nur, aufgrund psychischer Probleme nicht in der Lage zu sein...