Es bestehen keine verfassungsrechtlichen Bedenken gegen die Auslegung der Vorschriften der ZPO, wonach die Geltendmachung einer fehlerhaften Ersatzzustellung als unzulässige Rechtsausübung zu bewerten ist, wenn der Betroffene den Irrtum über seinen tatsächlichen Lebensmittelpunkt durch wiederholte Bezeichnung der Zustellungsanschrift als seine Adresse bewusst herbeigeführt hat.
BVerfG, 15.10.2009 – 1 BvR 2333/09
I. Der Fall
Schuldner täuscht Wohnort nur vor
Der Schuldner wendet sich gegen zivilgerichtliche Entscheidungen (KG v. 17.6. und 30.7.2009, 5 U 105/06), die seinen Einspruch gegen ein Versäumnisurteil als verfristet behandelt und Wiedereinsetzung in den vorigen Stand verweigert hatten. Klage und Versäumnisurteil waren an eine Adresse des Beschwerdeführers gerichtet und zugestellt worden, die er nicht mehr zu Wohnzwecken nutzte, jedoch im geschäftlichen Verkehr mehrfach als fortgeltend behandelte. Tatsächlich wohnte er in Thailand, behielt aber die Wohnung bei. Er hatte sich auch entsprechend abgemeldet. Die Adresse war zum Zustellungszeitpunkt sowohl in einem Online-Telefonbuch als auch in einer Internetwerbung noch aufgeführt.
II. Die Entscheidung
Schuldner muss sich daran festhalten lassen
LG und KG lassen im Streitfall die Frage letztlich offen, ob der Beschwerdeführer in Berlin eine Wohnung in diesem Sinne innegehabt hat. Sie stellen darauf ab, es sei unzulässige Rechtsausübung, wenn der Zustellungsadressat eine fehlerhafte Ersatzzustellung geltend mache, obwohl er den Irrtum über seinen tatsächlichen Lebensmittelpunkt durch wiederholte Bezeichnung der Zustellungsanschrift als seine Adresse bewusst herbeigeführt habe. Damit beziehen sich die Gerichte auf eine von mehreren Obergerichten vertretene Auffassung (FG Münster NJW 1985, 1184; OLG Düsseldorf FamRZ 1990, 75; OLG Karlsruhe NJW-RR 1992, 700; OLG Naumburg v. 27.2.2002; KG Berlin MDR 2005, 232). Dem schließt sich die Kommentarliteratur an (vgl. nur Stöber, in: Zöller, ZPO, 27. Aufl. 2009, § 178 Rn 7; Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann, ZPO, 67. Aufl. 2009, § 178 Rn 5 "Anschein").
Argument der unzulässigen Rechtsausübung trägt
Gegen diese Auslegung der Vorschriften der Zivilprozessordnung über die Ersatzzustellung im Lichte des das gesamte (Zivil-)Recht beherrschenden Grundsatzes von Treu und Glauben bestehen keine verfassungsrechtlichen Bedenken. Auch wenn sie im Ergebnis dazu führt, dass eine Entscheidung über die materiell-rechtliche Rechtslage unterbleibt und damit zugleich das rechtliche Gehör verkürzt wird, verhilft sie auf der anderen Seite der allgemeinen Redlichkeitspflicht der Parteien (§ 242 BGB) zur Geltung, die sich auch auf die Prozessführung und damit auch auf die Voraussetzungen einer wirksamen Zustellung bezieht (vgl. BVerfGE 104, 220 <232>; Vollkommer, in: Zöller, a.a.O., Einl. Rn 56 m.w.N.). Außerdem rechtfertigt sich eine eher formale Anwendung von Zustellungs- und Fristvorschriften aus dem rechtsstaatlichen Gebot der Rechtssicherheit und damit auch eines prozessökonomischen Verfahrens, solange dadurch eine effektive Rechtsausübung und das rechtliche Gehör nicht unterlaufen werden (vgl. BVerfGE 4, 31; BVerfGE 35, 41; BVerfGE 41, 323).
Der Praxistipp
BVerfG stärkt Gläubiger
Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes stärkt in der Praxis die Stellung des Gläubigers und zeigt einen für die Praxis wesentlichen dogmatischen Argumentationsansatz.
Zustellung unwirksam …
Die erste Frage ist natürlich, ob eine wirksame Zustellung erfolgt ist. Diese hat grundsätzlich in der Wohnung oder den Geschäftsräumen zu erfolgen. Unter Wohnung sind dabei nach dem Verständnis des BGH die Räume zu verstehen, in denen der Adressat zum Zeitpunkt der Zustellung tatsächlich lebt, insbesondere auch schläft (BGH NJW 1978, 1858; Zöller-Stöber, ZPO, 28. Aufl. 2010, § 179 Rn 4 m.w.N.). Allein die vorübergehende Abwesenheit schadet nicht (BGH NJW 1985, 2197; BGH FamRZ 1990, 143; BGH NJW-RR 1994, 564). Eine Wohnungsaufgabe liegt vor, wenn der Adressat seine bisherige Wohnung endgültig oder zumindest für einen längeren Zeitraum nicht mehr als räumlichen Mittelpunkt seines Lebens nutzt und einen anderen Aufenthaltsort begründet (BGH MDR 1988, 218). Gemessen an diesen Anforderungen war die Zustellung vorliegend als Ersatzzustellung nach § 178 ZPO unwirksam, da der Schuldner für einen nicht nur vorübergehenden Zeitraum seinen Lebensmittelpunkt ins Ausland verlegt hatte.
Die Folgen können fatal sein: Je nach dem abgelaufenen Zeitraum hat der Schuldner noch die Möglichkeit, gegen einen Vollstreckungsbescheid oder ein Versäumnisurteil einen Einspruch einzulegen und sich dann möglicherweise auf die Verjährung des materiellen Anspruchs zu berufen. Mangels wirksamer Zustellung hat keine verjährungshemmende Maßnahme gegriffen (§ 204 BGB).
… aber nicht immer kann sich der Schuldner darauf berufen!
Diese objektive Zustellung führt aber in Anwendung der vom Bundesverfassungsgericht zitierten obergerichtlichen Rechtsprechung nicht schon zur Unwirksamkeit der Zustellung. Vielmehr ist...