Verfahrensgang
KG Berlin (Beschluss vom 30.07.2009; Aktenzeichen 5 U 105/06) |
KG Berlin (Beschluss vom 17.06.2009; Aktenzeichen 5 U 105/06) |
LG Berlin (Urteil vom 27.06.2006; Aktenzeichen 15 O 725/05) |
Tenor
Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen.
Tatbestand
I.
Die Verfassungsbeschwerde betrifft prozessuale Grundrechte im Hinblick auf Fragen wirksamer Zustellung in einem Markenrechtsstreit.
1. Der Beschwerdeführer war Vertriebspartner der Klägerin des Ausgangsverfahrens (im Folgenden: Klägerin). Als solcher hatte er mit Einverständnis der Klägerin eine Wortmarke auf sich angemeldet.
Im Jahre 2004 wanderte der Beschwerdeführer nach Thailand aus. Darüber informierte er Ende des Jahres die Mitarbeiter der Klägerin. Seinen Wohnsitz in Berlin meldete er ab, behielt aber seine dortige Wohnung bei und auch sein Namensschild am Briefkasten. Im Mai 2005 beauftrage er seine damaligen Anwälte mit Markenverletzungsklagen. Die zum Landgericht erhobenen Klagen gegen Vertriebspartner der Klägerin enthielten die Berliner Adresse des Beschwerdeführers. Im Jahr 2005 fand sich auch in einem Online-Telefonbuch die Berliner Adresse sowie im Internet noch Werbung für eine – vom Beschwerdeführer zwischenzeitlich verkaufte – Firma, als deren Inhaber der Beschwerdeführer mit seiner Berliner Adresse genannt war. Am 26. Januar 2006 ließ er sich eine Internet-Domain unter dieser Adresse registrieren. Dem Familiengericht ebenso wie der deutschen Botschaft in Bangkok teilte der Beschwerdeführer hingegen seine Adresse in Thailand mit.
2. Mit ihrer Klage verlangte die Klägerin die Zustimmung zur Löschung der fraglichen Marke beim Deutschen Patent- und Markenamt. Die Klageschrift wurde am 6. Januar 2006 in den Briefkasten der Berliner Wohnung des Beschwerdeführers eingeworfen, das Versäumnisurteil am 31. Januar 2006.
Anlässlich eines Aufenthalts in Berlin erhielt der Beschwerdeführer am 22. Februar 2006 von einem Nachbarn die Post ausgehändigt. Mit Schriftsatz vom 6. März 2006 legte er Einspruch gegen das Versäumnisurteil ein und beantragte Wiedereinsetzung in den vorigen Stand.
3. Landgericht und Kammergericht stellen sich mit den nunmehr angegriffenen Entscheidungen auf den Standpunkt, die Klage und das Versäumnisurteil seien wirksam nach § 178 Abs. 1 Satz 1, § 180 ZPO zugestellt worden. Wiedereinsetzung in die versäumte Einspruchsfrist (§ 339 Abs. 1 ZPO) sei nicht zu gewähren.
4. Mit seiner Verfassungsbeschwerde rügt der Beschwerdeführer eine Verletzung von Art. 103 Abs. 1, Art. 19 Abs. 4 und Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG.
Entscheidungsgründe
II.
Die Verfassungsbeschwerde ist mangels sachlicher Erfolgsaussicht nicht zur Entscheidung anzunehmen.
1. Es kann dahinstehen, ob die Verfassungsbeschwerde aufgrund der Erhebung einer offensichtlich unzulässigen Anhörungsrüge bereits als verfristet anzusehen ist (§ 93 Abs. 1 BVerfGG; vgl. BVerfGK 7, 403 ≪407≫; BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 26. August 2008 – 2 BvR 1516/08 –, juris; BGH, Beschluss vom 20. November 2007 – VI ZR 38/07 –, NJW 2008, S. 923).
2. Jedenfalls ist die Verfassungsbeschwerde in der Sache ohne Erfolgsaussicht.
a) Art. 103 Abs. 1 GG ist nicht verletzt.
aa) Die Entscheidung der Gerichte, den Einspruch gegen das Versäumnisurteil als verfristet zu behandeln und Wiedereinsetzung nicht zu gewähren, läuft auf eine Präklusion des Sachvortrags des Beschwerdeführers hinaus. Präklusionsvorschriften schränken die Möglichkeit zur Wahrnehmung des Anspruchs auf rechtliches Gehör im Prozess ein und bewegen sich damit regelmäßig im grundrechtsrelevanten Bereich (vgl. BVerfGE 59, 330 ≪334≫; 60, 1 ≪6≫; 62, 249 ≪254≫; 63, 177 ≪180≫; 67, 39 ≪41≫; 69, 145 ≪149≫). Daraus folgt, dass bei ihrer Anwendung die Schwelle der Grundrechtsverletzung eher erreicht werden kann, als dies üblicherweise bei der Anwendung einfachen Rechts der Fall ist (vgl. BVerfGE 75, 302 ≪314≫). Dabei müssen Grundsätze rechtsstaatlicher Verfahrensgestaltung in die Prüfung einbezogen werden (vgl. BVerfGE 81, 264 ≪273≫). Art. 103 Abs. 1 GG gewährt allerdings keinen Schutz gegen Entscheidungen, die den Sachvortrag eines Beteiligten aus Gründen des formellen oder materiellen Rechts teilweise oder ganz unberücksichtigt lassen (vgl. BVerfGE 96, 205 ≪216≫; stRspr).
Diese Grundsätze gelten auch, wenn – wie hier – die Präklusion mittelbar darauf beruht, dass dem Beschwerdeführer eine Klage oder gerichtliche Entscheidung im Wege der Ersatzzustellung zugestellt wurde, ohne dass er selbst so rechtzeitig in ihren Besitz gelangt ist, dass er fristgerecht hätte dagegen vorgehen können. Der Zweck der Zustellung besteht darin, den Zeitpunkt der Übergabe nachweisen zu können, an den sich wichtige prozessuale Wirkungen knüpfen. Dem Adressaten gegenüber soll sie gewährleisten, dass er Kenntnis von dem zuzustellenden Schriftstück nehmen und seine Rechtsverteidigung oder Rechtsverfolgung darauf einrichten kann. Insoweit dienen die Vorschriften über die Zustellung der Verwirklichung des rechtlichen Gehörs (vgl. BVerfGE 67, 208 ≪211≫).
Ferner kann Art. 103 Abs. 1 GG hier insoweit betroffen sein, als die Gerichte eine Wiedereinsetzung in die Einspruchsfrist (§ 339 Abs. 1 ZPO) verweigert haben. In den Fällen des „ersten Zugangs” zum Gericht dient das Recht der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand der Verwirklichung des Anspruchs auf rechtliches Gehör, so dass bei der Anwendung des § 233 ZPO die Anforderungen daran nicht überspannt werden dürfen, was der Betroffene veranlasst haben und vorbringen muss, um nach einer Fristversäumung die Wiedereinsetzung zu erhalten (vgl. BVerfGE 54, 80 ≪84≫; 67, 208 ≪212 f.≫; stRspr).
bb) Gemessen hieran ist Art. 103 Abs. 1 GG nicht verletzt, weil die Gerichte in jedenfalls vertretbarer und vom Bundesverfassungsgericht nur auf Verfassungsverstöße zu überprüfender Weise die Zustellungs- und Wiedereinsetzungsvorschriften der Zivilprozessordnung im Einklang mit der obergerichtlichen Rechtsprechung angewendet haben.
(1) Für den Begriff der „Wohnung” im Sinne der §§ 180 ff. ZPO kommt es nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs grundsätzlich auf das tatsächliche Wohnen, nämlich darauf an, ob der Zustellungsempfänger hauptsächlich in den Räumen lebt und insbesondere, ob er dort schläft. Sie verliert ihre Eigenschaft als Wohnung, wenn der Zustellungsempfänger sie nicht mehr zu den vorgenannten Zwecken nutzt, sondern den räumlichen Mittelpunkt seines Lebens an einen anderen Aufenthaltsort verlagert. Ob dies der Fall ist, ist nach den konkreten Umständen des jeweiligen Einzelfalles zu beurteilen, wobei auch Sinn und Zweck der Zustellungsvorschriften zu beachten sind (vgl. BGH, Urteile vom 24. November 1977 – III ZR 1/76 –, NJW 1978, S. 1858, und vom 27. Oktober 1987 – VI ZR 268/86 –, NJW 1988, S. 713 m.w.N.).
Landgericht und Kammergericht lassen im Streitfall die Frage letztlich offen, ob der Beschwerdeführer in Berlin eine Wohnung in diesem Sinne innegehabt hat. Sie stellen darauf ab, es sei unzulässige Rechtsausübung, wenn der Zustellungsadressat eine fehlerhafte Ersatzzustellung geltend mache, obwohl er den Irrtum über seinen tatsächlichen Lebensmittelpunkt durch wiederholte Bezeichnung der Zustellungsanschrift als seine Adresse bewusst herbeigeführt habe. Damit beziehen sich die Gerichte auf eine von mehreren Obergerichten vertretene Auffassung (vgl. FG Münster, Urteil vom 19. Juni 1984 – VII 3175/83 EG –, NJW 1985, S. 1184; OLG Düsseldorf, Beschluss vom 19. Juni 1989 – 7 WF 78/89 –, FamRZ 1990, S. 75; OLG Karlsruhe, Beschluss vom 27. November 1991 – 9 W 72/91 –, NJW-RR 1992, S. 700 ≪701≫; OLG Naumburg, Beschluss vom 27. Februar 2002 – 11 W 82/01 –, juris; KG, Beschluss vom 10. August 2004 – 12 U 121/04 –, MDR 2005, S. 232). Dem schließt sich die Kommentarliteratur an (vgl. nur Stöber, in: Zöller, ZPO, 27. Aufl. 2009, § 178 Rn. 7; Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann, ZPO, 67. Aufl. 2009, § 178 Rn. 5 „Anschein”).
Gegen diese Auslegung der Vorschriften der Zivilprozessordnung über die Ersatzzustellung im Lichte des das gesamte (Zivil-)Recht beherrschenden Grundsatzes von Treu und Glauben bestehen keine verfassungsrechtlichen Bedenken. Auch wenn sie im Ergebnis dazu führt, dass eine Entscheidung über die materiellrechtliche Rechtslage unterbleibt und damit zugleich das rechtliche Gehör verkürzt wird, verhilft sie auf der anderen Seite der allgemeinen Redlichkeitspflicht der Parteien (§ 242 BGB) zur Geltung, die sich auch auf die Prozessführung und damit auch auf die Voraussetzungen einer wirksamen Zustellung bezieht (vgl. BVerfGE 104, 220 ≪232≫; Vollkommer, in: Zöller, a.a.O., Einl. Rn. 56 m.w.N.). Außerdem rechtfertigt sich eine eher formale Anwendung von Zustellungs- und Fristvorschriften aus dem rechtsstaatlichen Gebot der Rechtssicherheit und damit auch eines prozessökonomischen Verfahrens, solange dadurch eine effektive Rechtsausübung und das rechtliche Gehör nicht unterlaufen werden (vgl. BVerfGE 4, 31 ≪37≫; 35, 41 ≪47≫; 41, 323 ≪326≫).
Es ist nicht ersichtlich, dass die Gerichte hier die von der obergerichtlichen Rechtsprechung entwickelten Grundsätze zu Lasten des Beschwerdeführers überdehnt hätten. Abgesehen davon, dass sich das Bundesverfassungsgericht mit einer näheren Prüfung der Anwendung der genannten Rechtsprechung auf das Gebiet des „einfachen” Rechts begeben würde, erscheint es nicht abwegig, dem Beschwerdeführer im Streitfall widersprüchliches Verhalten vorzuwerfen. Denn er hat trotz seines Umzugs nach Thailand mehrfach nach außen erkennbar, sogar mit der im Streit stehenden Marke und mit Vertriebspartnern der Klägerin in Zusammenhang stehend, seine bisherige Anschrift als fortgeltend behandelt.
(2) Auch die Verweigerung einer Wiedereinsetzung verletzt hier Art. 103 Abs. 1 GG nicht. Sie wird von den Gerichten damit begründet, der Beschwerdeführer habe angesichts der Umstände davon ausgehen müssen, dass ihn unter der Adresse in Berlin Zustellungen, jedenfalls wegen weiterer Verfahren im Zusammenhang mit der fraglichen Marke, erreichen. Es handelt sich dabei um eine nicht fernliegende Würdigung der unstreitigen Tatsachen, zu deren Korrektur das Bundesverfassungsgericht nicht berufen ist (vgl. BVerfGE 18, 85 ≪92≫; 67, 208 ≪213≫).
b) Auch gegen das grundrechtsgleiche Recht auf wirkungsvollen Rechtsschutz wurde nicht verstoßen, denn die Anwendung des § 522 Abs. 2 ZPO ist vorliegend sachlich gerechtfertigt (vgl. BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 4. November 2008 – 1 BvR 2587/06 –, NJW 2009, S. 572 ≪573≫).
Die Verfassungsbeschwerde zeigt nicht auf, dass der Streitfall höchstrichterlich klärungsbedürftige Rechtsfragen aufwürfe oder dass die Fortbildung des Rechts oder die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung durch den Bundesgerichtshof erforderten. Zwischen den zitierten Entscheidungen des Bundesgerichtshofs und denen der Obergerichte besteht rechtlich kein Widerspruch, da erstere die Auslegung des gesetzlichen Wohnungsbegriffs und letztere den vom Adressaten nach außen erweckten Anschein einer Wohnung betreffen. Außerdem trifft die Auffassung des Beschwerdeführers nicht zu, die Gerichte wichen von der obergerichtlich etablierten Rechtsprechung zur unzulässigen Rechtsausübung im Hinblick auf das Vorliegen einer „Wohnung” ab. Jedenfalls ist objektive Willkür in der Rechtsanwendung nicht erkennbar.
3. Von einer weiteren Begründung wird nach § 93d Abs. 1 Satz 3 BVerfGG abgesehen.
Diese Entscheidung ist unanfechtbar.
Unterschriften
Papier, Bryde, Schluckebier
Fundstellen
NJW-RR 2010, 421 |
KKZ 2010, 218 |
FoVo 2010, 175 |