Leitsatz
1. Der Wert einer Vollstreckungsabwehrklage – und damit der Wert der Beschwer – bemisst sich nach dem Umfang der erstrebten Ausschließung der Zwangsvollstreckung. Dies gilt auch dann, wenn der Rechtsmittelkläger zur Duldung von Handlungen verurteilt worden ist. Die Beschwer des mit seinem Antrag unterlegenen Vollstreckungsabwehrklägers ist dann nach seinem Interesse daran zu bemessen, die Handlung nicht dulden zu müssen.
2. Beschränkt sich die Duldungsverpflichtung des Vollstreckungsabwehrklägers nach dem rechtskräftigen Urteil nicht auf eine bloße Zutrittsgewährung, sondern erstreckt sie sich vor allem auf die Vornahme von in ihrem Ausmaß noch nicht absehbaren Prüf- und Reparaturarbeiten, so sind bei der Ermessensausübung im Rahmen der Bestimmung des Wertes des Beschwerdegegenstandes nach § 511 Abs. 2 Nr. 1 ZPO vor allem die Beeinträchtigungen zu berücksichtigen, die mit der Vornahme dieser Arbeiten für den Kläger verbunden sein können.
BGH, Beschl. v. 23.5.2023 – VIII ZB 16/22
1 Der Fall
Verweigerung des Zutritts zu einer Wohnung
Die Klägerin bewohnt eine von den Beklagten angemietete Wohnung. Die Beklagten stellten in den unter dieser Wohnung liegenden Räumlichkeiten einen Wasserschaden fest. Daraufhin verlangten sie Zutritt zur Wohnung der Klägerin, um prüfen zu können, ob der Wasserschaden auf einen Rohrbruch der in der Ecke des dortigen WC-Raums verlaufenden Leitungen zurückzuführen ist. Die Klägerin verweigerte den Zutritt.
In einem Vorprozess wurde die Klägerin rechtskräftig verurteilt, den Beklagten in Begleitung von mindestens zwei Handwerkern nach einer Vorankündigung von fünf Werktagen Zugang zu ihrer Wohnung in der Zeit von 8 Uhr bis 17 Uhr zu verschaffen und zu dulden, dass die von den Beklagten zu bestellenden Handwerker den Rohrbruch prüfen und gegebenenfalls reparieren.
Vollstreckungsgegenklage: Gesundheitsgefahren beim Betreten der Wohnung?
Die Klägerin, die den Beklagten weiterhin den Zutritt zur Wohnung verweigert, begehrt im vorliegenden Rechtsstreit im Wege der Vollstreckungsabwehrklage die Unzulässigerklärung der Zwangsvollstreckung aus dem Urteil. Zur Begründung beruft sie sich vor allem auf mögliche Gesundheitsgefährdungen infolge der Covid-19-Pandemie und macht geltend, der Schutz ihrer Gesundheit sei vorrangig vor der Gewährung des Zutritts. Der WC-Raum habe keine Fenster und könne nur schlecht belüftet werden; während der Pandemie könnten dort Arbeiten nicht durchgeführt werden. Darüber hinaus gebe es Verfahren zur Feststellung einer Rohrundichtigkeit, die weder ein Betreten der Wohnung noch ein Aufstemmen der Wände erforderten.
Unzulässige Berufung wegen Nichterreichens des Berufungswertes?
Das AG hat die Klage im Verfahren gemäß § 495a ZPO abgewiesen und den Streitwert – ohne Begründung – auf 600 EUR festgesetzt; die Berufung hat es nicht zugelassen. Das LG hat die Berufung der Klägerin gemäß § 522 Abs. 1 S. 2 ZPO als unzulässig verworfen, weil der Berufungswert nicht erreicht sei.
2 II. Aus der Entscheidung
Der BGH sieht die Notwendigkeit, eine einheitliche Rechtsprechung zu sichern
Die Rechtsbeschwerde ist statthaft (§§ 574 Abs. 1 Nr. 1, 522 Abs. 1 S. 4 ZPO) und auch im Übrigen zulässig, weil die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Rechtsbeschwerdegerichts erfordert (§ 574 Abs. 2 Nr. 2 Alt. 2 ZPO). Die Annahme des LG, die Berufung sei im Hinblick auf die Wertgrenze des § 511 Abs. 2 Nr. 1 ZPO unzulässig, verletzt die – sich einander ergänzenden – verfassungsrechtlichen Rechtsschutzgarantien der Klägerin auf Gewährung rechtlichen Gehörs (Art. 103 Abs. 1 GG) und wirkungsvollen Rechtsschutzes (Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip).
Streitwert überschreitet die Berufungssumme
Das LG hat die Berufung der Klägerin zu Unrecht nach § 522 Abs. 1 S. 2 ZPO als unzulässig verworfen, weil es den Wert des von der Klägerin mit der Berufung geltend gemachten Beschwerdegegenstands (§ 511 Abs. 2 Nr. 1 ZPO) rechtsfehlerhaft bemessen hat. Dieser übersteigt entgegen der Annahme des Berufungsgerichts die Wertgrenze von 600 EUR.
Die gemäß §§ 2, 3 ZPO im freien Ermessen des Berufungsgerichts liegende Bestimmung des Werts des Beschwerdegegenstands kann allerdings vom Rechtsbeschwerdegericht nur beschränkt darauf überprüft werden, ob das LG, etwa weil es bei der Ausübung seines Ermessens die in Betracht zu ziehenden Umstände nicht umfassend berücksichtigt hat, die Grenzen des Ermessens überschritten oder von dem Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung nicht entsprechenden Weise Gebrauch gemacht hat.
Ermessensfehler des LG
Ein solcher Ermessensfehler liegt hier indes vor. Das LG hat rechtsfehlerhaft angenommen, der gemäß § 511 Abs. 2 Nr. 1 ZPO erforderliche Wert des Beschwerdegegenstands, der hier dem Wert der Berufungsbeschwer der Klägerin entspricht, werde nicht erreicht, weil es bei der Ausübung seines Ermessens zu berücksichtigende Umstände nicht in Betracht gezogen hat.
Die Bemessung des Wertes des Beschwerdegegenstands nach § 511 Abs. 2 Nr. 1 ZPO richtet sich grundsätzlich nach dem Interesse des...