Leitsatz
Dem EuGH werden folgende Fragen zur Auslegung des Gemeinschaftsrechts gemäß Art. 267 AEUV zur Vorabentscheidung vorgelegt:
1. Ist die Verordnung (EG) Nr. 1896/2006 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 12.12.2006 zur Einführung eines Europäischen Mahnverfahrens dahingehend auszulegen, dass der Antragsgegner einen Antrag auf gerichtliche Überprüfung des Europäischen Zahlungsbefehls auch dann stellen kann, wenn ihm der Zahlungsbefehl nicht oder nicht wirksam zugestellt wurde? Kann dabei insbesondere auf Art. 20 Abs. 1 oder Art. 20 Abs. 2 EUMahnVVO entsprechend abgestellt werden?
2. Für den Fall, dass die erste Frage zu bejahen ist: Hat der Antragsgegner für den Fall, dass ihm der Zahlungsbefehl nicht oder nicht wirksam zugestellt wurde, für seinen Überprüfungsantrag zeitliche Grenzen zu beachten? Ist dabei insbesondere auf die Regelung des Art. 20 Abs. 3 EUMahnVVO abzustellen?
3. Weiter für den Fall, dass die erste Frage zu bejahen ist: Welche prozessuale Rechtsfolge ergibt sich für den Fall, dass der Überprüfungsantrag Erfolg hat; kann dabei insbesondere entsprechend auf Art. 20 Abs. 3 oder Art. 17 Abs. 1 EUMahnVVO abgestellt werden?
AG Berlin-Wedding, 7.1.2013 – 70b C 4/11
1 I. Der Fall
Europäischer Zahlungsbefehl erlassen und zugestellt
Die in Deutschland ansässige Antragstellerin beantragte gegen die in Frankreich wohnhafte Antragsgegnerin beim Amtsgericht Wedding – Europäisches Mahngericht Deutschland – den Erlass eines Europäischen Zahlungsbefehls. Sie gab dabei als Wohnanschrift der Antragsgegnerin eine Adresse in Frankreich an. Das AG erließ antragsgemäß den Europäischen Zahlungsbefehl und gab ihn durch internationales Einschreiben mit Rückschein zur Zustellung. Ausweislich des Rückscheins wurde er am 31.3.2010 unter der durch die Antragstellerin angegebenen Adresse zugestellt. Weitere Einzelheiten zur Zustellung sind dem Rückschein nicht zu entnehmen. Am 20.5.2010 erteilte das AG die Vollstreckbarerklärung nach Art. 18 Abs. 1 der Verordnung.
Formell verspäteter Einspruch
Mit anwaltlichem Schreiben vom 28.7.2010, bei Gericht eingegangen am 3.8.2010, erhob die Antragsgegnerin Einwendungen, die als Einspruch gegen den Europäischen Zahlungsbefehl auszulegen sind. Mit Schreiben vom 5.8.2010 wies das AG darauf hin, dass allenfalls ein Überprüfungsantrag nach Art. 20 EUMahnVVO gestellt werden könne. Mit Schreiben vom 7.10.2010 stellte die Antragsgegnerin Überprüfungsantrag, ohne näher zur Sache vorzutragen. Den Überprüfungsantrag begründete sie mit anwaltlichem Schreiben vom 13.4.2011.
Einwand der verspäteten Zustellung
Die Antragsgegnerin macht geltend, dass ihr der Europäische Zahlungsbefehl zu keinem Zeitpunkt zugestellt worden sei. Sie sei bereits im Oktober 2009 aus der Wohnung unter der im Zahlungsbefehl genannten Anschrift ausgezogen. Vom Zahlungsbefehl habe sie erst im Rahmen der eingeleiteten Vollstreckung durch einen Brief ihrer Bank vom 23.7.2010 erfahren. Die Einzelheiten dazu sind zwischen den Parteien höchst streitig.
2 II. Die Entscheidung
Ist das Überprüfungsverfahren ein Rechtsmittel?
Der Erfolg des Rechtsmittels ist davon abhängig, ob der Überprüfungsantrag überhaupt ein statthaftes Rechtsmittel ist. Der Gerichtshof hat bislang nicht entschieden, ob der Antragsgegner in einem Fall, in dem eine Zustellung des Europäischen Zahlungsbefehls nicht oder nicht wirksam erfolgt ist, überhaupt eine gerichtliche Entscheidung herbeiführen kann.
Checkliste: Wann ist das Überprüfungsverfahren statthaft
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Gemäß Art. 20 Abs. 1 EUMahnVVO kann die Überprüfung des Europäischen Zahlungsbefehls nach Ablauf der in Art. 16 Abs. 2 genannten Frist beantragt werden, wenn
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der Zahlungsbefehl in einer der in Artikel 14 genannten Formen zugestellt wurde und die Zustellung ohne Verschulden des Antragsgegners nicht so rechtzeitig erfolgt ist, dass er Vorkehrungen für seine Verteidigung treffen konnte, oder |
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der Antragsgegner aufgrund höherer Gewalt oder aufgrund außergewöhnlicher Umstände ohne eigenes Verschulden keinen Einspruch gegen die Forderung einlegen konnte. |
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Gemäß Art. 20 Abs. 2 EUMahnVVO kann die Überprüfung nach Ablauf der in Art. 16 Abs. 2 genannten Frist ferner beantragt werden, wenn der Europäische Zahlungsbefehl gemessen an den in der Verordnung festgelegten Voraussetzungen oder aufgrund von anderen außergewöhnlichen Umständen offensichtlich zu Unrecht erlassen worden ist. |
Einspruchsfrist muss abgelaufen sein
Nach Art. 20 EUMahnVVO setzt der Überprüfungsantrag also in beiden Absätzen voraus, dass die Einspruchsfrist bereits abgelaufen ist. Die Antragsgegnerin bringt dagegen vor, dass der Europäische Zahlungsbefehl nie wirksam zugestellt worden sei. Ohne Zustellung hätte die Einspruchsfrist nicht zu laufen angefangen und könnte daher nicht abgelaufen sein. Nach dem ausdrücklichen Wortlaut der Norm ist ein Rechtsmittel gegen den Europäischen Zahlungsbefehl für den Fall der unterbliebenen oder unwirksamen Zustellung daher nicht gegeben.
Rechtsschutzlücke?
Würde es beim Wortlaut der Verordnung (EG) Nr. 261/2006 bleiben, entstünde eine erhebliche Lü...