BGH übersieht entscheidenden Aspekt
Der BGH übersieht einen entscheidenden Aspekt. Der Gesetzgeber hat inzwischen eingeräumt, dass es verfassungsrechtlich bedenklich und unzulässig ist, zwischen Rechtsanwälten und Inkassodienstleistern innerhalb der Postulationsfähigkeit der Inkassodienstleister zu differenzieren (BT-Drucks 18/9521, S. 217 und BT-Drucks 19/20348, S. 27). Vor diesem Hintergrund bestehen ganz erheblich verfassungsrechtliche Bedenken gegen die Auslegung des BGH. Nach verfassungskonformer Auslegung hätte § 88 Abs. 2 ZPO – jedenfalls aber die vom Gesetzgeber inzwischen eingeführte Regelung des § 753a ZPO – herangezogen werden müssen. Es ist bedauerlich, dass der BGH diese Frage nicht einmal angesprochen hat.
BGH entgegen der überwiegenden Praxis und der Lebenswirklichkeit
Wenn der BGH meint, dass die Rechtsprechung zur anlassbezogenen Überprüfung der allgemeinen Verfahrensvoraussetzungen, zu denen die Vollmacht gehört, nicht anwendbar sei, weil es unterschiedliche Lebenserfahrungen gibt, so behauptet er dies nur, ohne darzulegen, woher er seine Erkenntnisse nimmt. Tatsächlich hat eine Länderumfrage vor einigen Jahren ergeben, dass es nicht einen einzigen Fall gab, in denen ein Inkassodienstleister auf Anforderung seine Vollmacht nicht nachweisen konnte. Keine der einschlägigen juristischen Datenbank gibt einen Sachverhalt her, der die Annahme trägt. Das Gegenteil der Behauptung des BGH ist also richtig. Es sind sehr viel mehr Personen prozessunfähig, als es bei Rechtsdienstleistern an der tatsächlichen Vollmacht fehlt. Nicht zuletzt vor diesem Hintergrund arbeitet die gerichtliche Praxis seit der Einführung von § 829a ZPO im Jahr 2013 reibungslos mit dem auch hier eingesetzten Verfahren, dass die Vollmacht als elektronisches Dokument dem Vollstreckungsauftrag beigefügt wird.
Aber der Gesetzgeber hat schon gehandelt
Die Inkassodienstleister werden sich in der Praxis mit dieser Entscheidung sicherlich herumärgern müssen. Sie werden von Vollstreckungsgerichten und Gerichtsvollziehern bei Anträgen nach § 829a ZPO bzw. § 754a ZPO darauf hingewiesen werden. Das ist auch der Grund, warum die Entscheidung hier aufgegriffen wird. Allerdings hat der Gesetzgeber schon vor der Entscheidung reagiert, wenn auch nach den relevanten Handlungen. Vergleichbar § 703 ZPO hat der Gesetzgeber nämlich mit Wirkung vom 1.1.2021 in § 753a ZPO die Verpflichtung zur Vorlage der Vollmacht für Inkassodienstleister abgeschafft. Bei der Durchführung der Zwangsvollstreckung wegen Geldforderungen in das bewegliche Vermögen haben Bevollmächtigte nach § 79 Abs. 2 S. 1 und 2 Nr. 3 und 4 ZPO, mithin auch die Inkassodienstleister, nach § 753a Abs. 1 ZPO ihre ordnungsgemäße Bevollmächtigung nur noch zu versichern; des Nachweises einer Vollmacht bedarf es in diesen Fällen nicht. In die elektronischen Anträge nach §§ 829a, 754a ZPO sind also die Versicherungen aufzunehmen. Unter dieser Voraussetzung können auch Inkassodienstleister (wieder) elektronische Vollstreckungsanträge stellen. Auch hier irritiert, dass der BGH diese Änderung und Norm nicht einmal anspricht und diskutiert, ob sie im konkreten Einzelfall, jedenfalls aber für die Zukunft zu berücksichtigen ist. Dabei ist die Vorlage der Vollmacht in elektronischer Form als konkludente Versicherung zu verstehen, dass diese vorliegt. In anderen Fällen – etwa bei den Hochwasser- oder Coronahilfen – hat der gleiche Senat (Beschl. v. 10.3.2021 – VII ZB 24/20, NJW 2021, 1322) auch schon Normen herangezogen, bevor sie überhaupt in Kraft getreten waren. Ob eine zum Zeitpunkt der Rechtsbeschwerde bereits in Kraft befindliche Norm bei der Bewertung zu berücksichtigen ist, hätte zumindest diskutiert werden können.
Keine Nichtigkeit anderweitig erlassener PfÜBs
Bleibt die Entscheidung ohne Konsequenzen für die Zukunft, stellt sich doch die Frage, ob sie Auswirkungen auf die Vergangenheit hat. Keinesfalls kann davon ausgegangen werden, dass die in der Vergangenheit auf Antrag von Inkassodienstleistern erlassenen Pfändungs- und Überweisungsbeschlüsse nichtig sind. Dafür müsste es an einer elementaren Vollstreckungsvoraussetzung wie dem Vollstreckungstitel fehlen (BGH NJW 1993, 753). Dass der BGH eine streitige Rechtsfrage entscheidet, genügt dafür nicht (BGH v. 21.7.2021 – IX ZB 47/19 Rn 11, juris). Hier fehlen Vollstreckungstitel und Vollmacht nicht, sondern sie wurden nur nicht schriftlich – sehr wohl aber elektronisch – vorgelegt. Insoweit bliebe auch die Annahme der Anfechtbarkeit ohne durchschlagenden Effekt, weil im Rechtsmittelverfahren Titel und Vollmacht schriftlich vorgelegt werden könnten.
VRiOLG Frank-Michael Goebel
FoVo 11/2021, S. 230 - 236