Leitsatz
Der Pkw eines gehbehinderten Schuldners unterliegt nicht der Pfändung, wenn die Benutzung des Pkw erforderlich ist, um die Gehbehinderung teilweise zu kompensieren und die Eingliederung des Schuldners in das öffentliche Leben wesentlich zu erleichtern.
BGH, 16.6.2011 – VII ZB 12/09
1 Der Praxistipp
Gläubiger will Pkw eines Gehbehinderten pfänden
Im vorliegenden Fall des BGH war der Schuldner gehbehindert. Sein Grad der Behinderung war mit 70 festgestellt und ihm war das Merkzeichen "G" (= erhebliche Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr) zuerkannt. Der Gläubiger beauftragte den GV mit der Pfändung des Pkw, was dieser unter Verweis auf die Behinderung ablehnte. AG und LG haben das anders gesehen. Der BGH ist dagegen dem GV gefolgt.
Der BGH hat den Pfändungsschutz nach § 811 Abs. 1 ZPO aktiviert. Er diene dem Schutz des Schuldners aus sozialen Gründen im öffentlichen Interesse und beschränke die Durchsetzbarkeit von Ansprüchen mithilfe staatlicher Zwangsvollstreckungsmaßnahmen. Er sei Ausfluss der in Art. 1 GG und Art. 2 GG garantierten Menschenwürde bzw. allgemeinen Handlungsfreiheit und enthalte eine Konkretisierung des verfassungsrechtlichen Sozialstaatsprinzips (Art. 20 Abs. 1, Art. 28 Abs. 1 GG). Dem Schuldner solle dadurch die wirtschaftliche Existenz erhalten werden, um – unabhängig von Sozialhilfe – ein bescheidenes, der Würde des Menschen entsprechendes Leben führen zu können (BGH NJW-RR 2010, 642; BGH NJW-RR 2004, 789 m.w.N.).
Im konkreten Fall hat der BGH § 811 Abs. 1 Nr. 12 ZPO als einschlägig angesehen. Dessen Zweck sei es, die aus einem Gebrechen oder einer Behinderung resultierenden Nachteile auszugleichen oder zu verringern und dem Schuldner so ein angemessenes Leben in der Gesellschaft zu ermöglichen. Die Pfändung eines Fahrzeugs hat demnach zu unterbleiben, wenn sie dazu führt, dass der Schuldner in seiner Lebensführung stark eingeschränkt und im Vergleich zu einem nicht behinderten Menschen entscheidend benachteiligt wird. Es kommt dabei nicht darauf an, dass das Fahrzeug für den Schuldner unentbehrlich ist. Vielmehr ist ein Pfändungsverbot anzunehmen, wenn die Benutzung des Pkw dazu erforderlich ist, um die Gehbehinderung teilweise zu kompensieren und die Eingliederung in das öffentliche Leben wesentlich zu erleichtern. Die Erforderlichkeit des Nachteilsausgleichs durch Belassung des Pkw könne nicht generell mit der Begründung verneint werden, der Schuldner könne statt seines Pkw öffentliche Verkehrsmittel benutzen.
Ungeachtet dessen kein Freibrief
Aber: Der gehbehinderte Schuldner muss sich auf öffentliche Verkehrsmittel verweisen lassen, wenn ihm deren Benutzung zugemutet werden kann und seine behinderungsbedingten Nachteile hierdurch ausreichend kompensiert werden. Im Rahmen des § 811 Abs. 1 Nr. 12 ZPO ist eine ausreichende Kompensation behinderungsbedingter Nachteile durch den Verweis auf öffentliche Verkehrsmittel dann nicht mehr gewährleistet, wenn dies für den Schuldner bei seinen häufigen, teils täglichen Fahrten zu Ärzten und Therapeuten mit ungewöhnlich langen Fahr- und Wartezeiten verbunden wäre (BGH NJW-RR 2010, 642).
Auch an die Austauschpfändung denken
Ob die Bedingungen für einen Pfändungsschutz nach § 811 Abs. 1 Nr. 12 ZPO vorliegen, ist damit eine Frage des Einzelfalls. Der Gläubiger muss hier alle Umstände prüfen. Ergibt sich danach ein Pfändungsschutz, kann er immer noch erwägen, ob eine Austauschpfändung nach § 811a ZPO in Betracht kommt. Dies wird allerdings nur dann möglich sein, wenn es sich um ein Fahrzeug handelt, das nicht speziell auf die Bedürfnisse des Schuldners hin behindertengerecht umgebaut wurde.