Leitsatz
Aus der Steuerklasse der Schuldnerin und dem (hälftigen) Kinderfreibetrag kann geschlossen werden, dass der andere Elternteil zumindest den Regelsatz nach dem SGB II erhält und dem gemeinsamen Kind Naturalunterhalt gewährt.
LG Aurich, Beschl. v. 16.12.2021 – 7 T 305/21
1 Der Fall
Antrag auf Nichtberücksichtigung unterhaltsberechtigter Personen
Der Gläubiger betreibt die Zwangsvollstreckung gegen die Schuldnerin aufgrund eines Vollstreckungsbescheides. Er beantragte über seine Verfahrensbevollmächtigte einen Pfändungs- und Überweisungsbeschluss, den das AG auch antragsgemäß erließ. Die Schuldnerin bezieht einen Monatsnettoverdienst von 1.658,35 EUR.
Anschließend beantragte der Gläubiger, die Drittschuldnerin anzuweisen, bei der Berechnung des pfändbaren Betrages den 2015 geborenen Sohn der Schuldnerin nur zu 50 % zu berücksichtigen.
Nur begrenzte Tatsachenkenntnis
Die Schuldnerin befinde sich in Steuerklasse I und haben einen Kinderfreibetrag von 0,5. Aufgrund des Unterhaltsanspruchs gegen den Vater sei das Kind nur zur Hälfte als unterhaltsberechtigte Person zu berücksichtigen. Kenntnis hinsichtlich der Höhe des Einkommens des Kindsvaters bestehe nicht, dieser erhalte jedoch mindestens den Regelsatz nach SGB II nebst Kosten für Unterkunft und Heizung.
Das reichte dem AG nicht
Die Schuldnerin erhielt Gelegenheit zur Stellungnahme, äußerte sich jedoch nicht. Das AG wies den Antrag zurück. Gegen diesen Beschluss richtet sich die sofortige Beschwerde, der das AG nicht abgeholfen hat. Eine Stellungnahme der Schuldnerin erfolgte auch im Rahmen des Beschwerdeverfahrens nicht.
2 II. Die Entscheidung
LG sieht Möglichkeit der Ermessensausübung und -entscheidung
Die zulässige sofortige Beschwerde hat auch in der Sache überwiegend Erfolg. Entgegen der Auffassung des AG ermöglichen die Ausführungen des Beschwerdegegners die Ausübung der Ermessensentscheidung i.S.v. § 850c Abs. 6 ZPO.
Gemäß § 850c Abs. 6 ZPO – ehemals Abs. 4 – kann das Vollstreckungsgericht nach billigem Ermessen anordnen, dass eine nach dem Gesetz unterhaltsberechtigte Person, die eigene Einkünfte hat, bei der Berechnung des unpfändbaren Teils des Arbeitseinkommens ganz oder teilweise unberücksichtigt bleibt (BGH, Beschl. v. 9.7.2020 – IX ZB 38/19).
Keine überspannten Anforderungen an die Darlegung des Eigeneinkommens
Im Rahmen seiner Ermessensentscheidung hat das Vollstreckungsgericht zu erwägen, ob die eigenen Einkünfte des Unterhaltsberechtigten, die ihm für seinen Lebensunterhalt zur Verfügung stehen, dergestalt zu berücksichtigen sind, dass dem Schuldner für den damit bereits gedeckten Bedarf des Unterhaltsberechtigten ein Einkommensbetrag nicht verbleiben muss. An die Überprüfung dürfen keine überspannten Anforderungen gestellt werden, um das Vollstreckungsverfahren nicht unpraktikabel zu machen (BGH v. 5.4.2005 – VII ZB 28/05, WM 2005, 1186, 1187). Von maßgebender Bedeutung ist zunächst die Höhe der Eigeneinkünfte des Unterhaltsberechtigten, sodann aber dessen Lebensbedarf, der aus diesen Einkünften zu bestreiten ist (BeckOK-ZPO/Riedel, 2020, § 850c Rn 24). Die im einzelnen Fall nach billigem Ermessen zu treffende Entscheidung obliegt dabei dem Tatrichter (BGH v. 5.11.2009 – IX ZB 101/09, NZI 2010, 578; BGH v. 9.7.2020 – IX ZB 38/19).
Unterhaltszahlungen bzw. -leistungen sind Einkommen
Dabei sind Unterhaltszahlungen, die der Unterhaltsberechtigte vom anderen Elternteil oder Dritten bezieht, als eigene Einkünfte i.S.d. § 850c Abs. 6 ZPO zu berücksichtigen (BGH v. 19.12.2019 – IX ZB 83/18, WM 2020, 288). Auch Zuwendungen, die als Naturalunterhalt geleistet werden, sind hier zu berücksichtigen.
Wie das AG zutreffend festgestellt hat, obliegt es zunächst dem Gläubiger, schlüssig vorzutragen, wobei zu dem Vortrag auch die ungefähre Höhe der Eigeneinkünfte des Unterhaltsberechtigten gehört. Der Gläubiger hat hier erklärt, dass er keine Kenntnis über das Einkommen des Kindesvaters habe, allerdings davon auszugehen sei, dass dieser zumindest den SGB II-Regelsatz nebst Leistungen für Unterkunft und Heizung erhalte. Dieser Vortrag ist seitens der Schuldnerin weder bestritten noch widerlegt worden und kann insofern als zugestanden gelten. Im Antragsverfahren nach Abs. 1, Abs. 6 sind die Angaben des Gläubigers bezüglich der Höhe des Einkommens des getrenntlebenden Ehegatten des Schuldners als zutreffend zu unterstellen, wenn der Schuldner den Vortrag des Gläubigers nicht bestreitet (MüKo-ZPO/Smid, 6. Aufl. 2020, ZPO § 850c Rn 25).
Feststellung: Nichtschuldender Kindesvater leistet Unterhalt
Insofern ist davon auszugehen, dass der Vater jedenfalls den SGB II-Regelsatz i.H.v. 446 EUR nebst Leistungen für Unterkunft und Heizung bezieht, welche sich im angemessenen Rahmen auf 500 EUR beziffern lassen (AG Straubing v. 6.8.2020 – 1 M 733/20). Wie sich aus der Lohnabrechnung der Schuldnerin ergibt, ist diese in Steuerklasse I eingetragen und verzeichnet den hälftigen Kinderfreibetrag, sodass davon auszugehen ist, dass der Vater des Kindes die andere Hälfte verzeichnet und das Kind auch bei ihm lebt.
Feststellung: Kin...