1 Grundsatz – Zweck
Rz. 1
Ausländische Entscheidungen werden in Deutschland ipso iure anerkannt. Liegen keine Versagungsgründe vor, entfaltet das ausländische Urteil auch im Inland Wirkung, ohne dass dies gerichtlich festgestellt oder angeordnet werden müsste. Etwas anderes gilt allerdings für die Vollstreckbarkeit ausländischer Entscheidungen im Inland. Für diese postuliert das deutsche Zivilprozessrecht besondere Voraussetzungen. Die §§ 722 und 723 ZPO (auch § 110 FamFG) betreffen ausschließlich die Vollstreckbarkeit (Vollstreckungswirkung) ausländischer Urteile im Inland. Hinsichtlich der sonstigen prozessualen Wirkungen, die ein ausländisches Urteil im Inland entfaltet (z. B. Rechtskraftwirkung, Gestaltungswirkung etc.) sind § 328 ZPO und § 109 FamFG maßgebend. Im Inland kann aus einem ausländischen Urteil erst nach förmlicher Vollstreckbarerklärung vorgegangen werden. In einem gesonderten Verfahren wird geprüft, ob der ausländische Titel anerkannt und vollstreckt werden kann. Die positive Entscheidung eröffnet den Zugang zu den deutschen Organen der Zwangsvollstreckung (Zöller/Geimer, § 722 Rn. 1, 2). Durch die sog. Vollstreckungsklage, die eine prozessuale Gestaltungsklage ist, wird dem ausländischen Titel die im Inland fehlende Vollstreckbarkeit originär verliehen (BGH, ZEV 2008, 445). Mahnverfahren und Klage im Urkundenprozess sind unzulässig (MünchKomm/ZPO-Gottwald, § 722 Rn. 2). Die beteiligten Parteien können dem (ausländischen) Titel die Vollstreckbarkeit nicht durch Parteivereinbarung zuweisen. Für Entscheidungen, die nach deutschem Recht Familiensachen oder Verfahren der freiwilligen Gerichtsbarkeit sind, gilt § 110 FamFG, nicht § 722 ZPO.
Rz. 2
Von der Vollstreckbarerklärung einer ausländischen Entscheidung ist deren bloße Anerkennung nach § 328 ZPO bzw. § 109 FamFG zu unterscheiden. Für sie bedarf es keines besonderen Verfahrens. Während die Anerkennung die Erstreckung bestehender Wirkungen auf das Inland zur Folge hat, verleiht die Vollstreckbarerklärung einem ausländischen Urteil eine neue Wirkung, nämlich seine Vollstreckbarkeit im Inland. Die Vollstreckbarerklärung (Exequatur) stellt nach allgemeiner Auffassung ein Gestaltungsurteil dar (BGH, NJW 1992, 3097). Die materiellen Voraussetzungen bestimmt § 723 ZPO.
2 Anwendungsbereich
Rz. 3
Unter dem Gesichtspunkt, dass es das Ziel der EU ist, eine vollständige Freizügigkeit betreffend gerichtlicher Entscheidungen der Mitgliedsstaaten zu erreichen und damit der Vollstreckbarerklärung (Exequatur) den Boden zu entziehen, sind die Vollstreckbarerklärungen nach den §§ 722, 723 ZPO in der forensischen Praxis die Ausnahme. Die Zivilprozessordnung regelt die Vollstreckung ausländischer Titel nur subsidiär, nämlich soweit nicht EG-Verordnungen und multi- oder bilaterale Abkommen speziellere Regeln enthalten (KG, FamRZ 1998, 383 = InVo 1998, 256). Nach der Übergangszeit gemäß dem Austrittsabkommen sind die europäischen Regelungen seit dem 1.1.2021 und auch die zuvor mit Großbritannien geschlossenen Abkommen nicht mehr anwendbar. Deshalb bekommen die Bestimmungen der §§ 722, 723 ZPO im Verhältnis zwischen Deutschland und Großbritannien wieder eine größere Bedeutung.
Die Europäische Union hat am 12.12.2012 die Verordnung (EU) Nr. 1215/2012 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen (ABl. L 351 v. 20.12.2012, S. 1; im Folgenden: Brüssel-Ia-Verordnung) verabschiedet. Die Verordnung findet ab dem 10.1.2015 in 27 EU-Mitgliedstaaten sowie mittelbar auch im Verhältnis zu Dänemark Anwendung. Sie ersetzt die Verordnung (EG) Nr. 44/2001 des Rates über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen (ABl. L 12 v. 16.1.2001, S. 1; im Folgenden: Brüssel-I-Verordnung). Dadurch entfällt insbesondere das Vollstreckbarerklärungsverfahren, das bislang der Vollstreckung ausländischer Titel vorgeschaltet ist. Die Neuregelung gilt in der Bundesrepublik Deutschland unmittelbar. Durch das Gesetz zur Durchführung der Verordnung (EU) Nr. 1215/2012 sowie zur Änderung sonstiger Vorschriften vom 08. Juni 2014 wurden Regelungen zur Durchführung der Brüssel-Ia-Verordnung beschlossen (BGBl. I S. 890). Die maßgeblichen Vorschriften regeln den Bereich der justiziellen Zusammenarbeit in Zivilsachen in der Europäischen Union und sind in das 11. Buch der Zivilprozessordnung eingefügt worden (Abschnitt 7 Anerkennung und Vollstreckung nach der Verordnung (EU) Nr. 1215/2012; §§ 1110 bis 1117). Der Gesetzgeber hat damit von einer Verankerung dieser Bestimmungen im Anerkennungs- und Vollstreckungsausführungsgesetz (AVAG) Abstand genommen, weil das AVAG-Vollstreckbarerklärungsverfahren mit der Geltung der neuen EU-Verordnung insoweit entfällt. Die Regelungen des AVAG sind entsprechend angepasst.
Im Unterschied zur bisherigen Rechtslage entfällt mit Inkrafttreten der neuen Verordnung das sogenannte Vollstreckbarkeiterklärungsverfahren. Bislang mussten Gläubiger, die ihren zivilrechtlichen Titel...