1 Grundsatz – Zweck
Rz. 1
Die Vorschrift dient der Milderung untragbarer, dem allgemeinen Rechtsgefühl widersprechender Härten, die das formgestrenge Vollstreckungsrecht im Einzelfall mit sich bringen kann (Zöller/Seibel, § 765a Rn. 1). Sie ist eine Ausprägung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit, der auch in der Zwangsvollstreckung gilt, sowie Ausdruck des allgemeinen Verbots des Rechtsmissbrauchs (BVerfG, NJW 1998, 295; BVerfGE 84, 345; LG Hannover, Rpfleger 1986, 439; OLG Hamm, WM 1983, 267). Nach der durch das Gesetz zur Verbesserung der Rechtsstellung des Tieres im bürgerlichen Recht seit 1990 geltenden Änderung des Abs. 1 soll auch der Tierschutzgedanke bei der Interessenabwägung Berücksichtigung finden. Die Bestimmung ist eine eng auszulegende Ausnahmevorschrift (vgl. BVerfG, NJW 2015 3083) für individuell gelagerte Fälle, die sich mit Hilfe der speziellen Normen des Vollstreckungsschutzes nicht erfassen lassen (Ultima ratio des Schuldnerschutzes). Als Ausnahme- und Auffangvorschrift (auch als Generalklausel) ist die Bestimmung mit größter Zurückhaltung anzuwenden und stets eng auszulegen (BGH, NJW 2009, 78; NJW 2004, 3635; LG Kassel, JurBüro 2011, 385; OLG Hamm, Rpfleger 2002, 39; BGH, NJW 1965, 2107).
2 Anwendungsbereich
Rz. 2
Als "Generalklausel des Schuldnerschutzes" gilt § 765a ZPO für alle Arten der Zwangsvollstreckung, auch für die Vollstreckung in Immobilien, zur Erwirkung von Handlungen (BAG, NZA 2020, 1169) und Unterlassungen (LG München I, MDR 2000, 354) sowie für die Vermögensauskunftsverfahren; für das Insolvenzeröffnungsverfahren (AG Hamburg, NZI 2017, 819, wenn eine insolvenztypische Härte vorliegt; streitig: a. A. OLG Nürnberg, KTS 1971, 291; Schuschke/Walker, § 765a Rn. 3; vermittelnd LG Nürnberg-Fürth, MDR 1979, 590; MünchKomm/ZPO-Heßler, § 765a Rn. 20 bis 24); bei Vollstreckungsmaßnahmen des Insolvenzverwalters nach § 148 Abs. 2 InsO im Insolvenzverfahren, soweit dies zur Erhaltung von Leben und Gesundheit des Schuldners erforderlich ist (BGH, NJW 2021, 1325); im Insolvenzverfahren nur dann, wenn im Einzelfall das Vorgehen des Gläubigers nach Abwägung der beiderseitigen Belange zu einem untragbaren Ergebnis führte (BGH, NJW-RR 2019, 1883). Dabei sind die Ziele des § 1 InsO und die Besonderheit der Gesamtvollstreckung grundsätzlich vorrangig zu berücksichtigen; für den Zuschlagsbeschluss (BGH, ZfIR 2021, 515) sowie für die Anordnung der Zwangsversteigerung im Zwangsversteigerungsverfahren, Räumung (OLG Hamm, InVo 2001, 234; BrandenburgOLG, InVo 2001, 333; LG Kiel, NJW 1992, 1174); für die Vollstreckung nach § 887 ZPO (LG Frankenthal, Rpfleger 1984, 28); für das Offenbarungsverfahren (OLG Frankfurt/Main, MDR 1981, 412); im Verfahren nach § 180 ZVG (KG, InVo 1998, 264 = MDR 1998, 1307 = NJW-RR 1999, 434; OLG Karlsruhe, Rpfleger 1994, 223; OLG Köln, NJW-RR 1992, 126; LG Stuttgart, MDR 1993, 83; a. A. LG Berlin, FamRZ 1987, 1067; LG Frankenthal, Rpfleger 1985, 375). Im Verfahren der Anordnung der Ersatzordnungshaft nach Art. 8 Abs. 2 EGStGB (OLG Stuttgart, Beschluss v. 25.1.2017, 2 W 74/16 – Juris; LG Leipzig, ZInsO 2015, 1579). Die Vollstreckung einer Entscheidung des Familiengerichts zur Räumung und Herausgabe der (Ehe-)Wohnung richtet sich ebenfalls nach den Bestimmungen der Zivilprozessordnung. Durch die Verweisung des § 95 FamFG ist die Möglichkeit für den Schuldner eröffnet, Vollstreckungsschutz nach § 765a ZPO zu suchen. Über diesen Vollstreckungsschutzantrag entscheidet das Vollstreckungs-, nicht das Familiengericht. Auf die Unzuständigkeit des Familiengerichts kann ein Rechtsmittel nicht gestützt werden (OLG Frankfurt, NJW-RR 2013, 776 = DGVZ 2013, 160 = FamRZ 2013, 1760). § 765a ZPO ist im Erkenntnisverfahren im Verhältnis zwischen Gläubiger und Drittschuldner nicht anwendbar; Dritte können sich nicht auf § 765a ZPO berufen. Über einen Antrag nach § 765a ZPO hat allein das Vollstreckungsgericht zu befinden (BVerfG, NJW 2015, 3083).
Rz. 3
Auf die Art des Schuldtitels kommt es nicht an; der Vollstreckungsschutzantrag ist gegen die Zwangsvollstreckung aus allen nach dem Achten Buch der ZPO zu vollstreckenden Titeln möglich. Das gilt auch für die Zwangsvollstreckung aus einem Prozessvergleich (OLG Hamm, NJW 1965, 1386), eines Arrestes und einer einstweiligen Verfügung. Die Rechtsnatur der dem Titel zugrunde liegenden Forderung des Gläubigers kann sich allerdings bei der Gesamtwürdigung des Schutzbedürfnisses vor allem des Gläubigers auswirken (wenn es sich z. B. um einen Unterhaltsanspruch handelt).
Rz. 4
Der Vollstreckungsschutzantrag nach § 765a ZPO kann von jedem Schuldner gestellt werden, nicht nur von natürlichen Personen, sondern auch von Handelsgesellschaften und juristischen Personen (Zöller/Seibel, § 765a Rn. 3). Auch der Insolvenzverwalter ist berechtigt, den Antrag im Zwangsversteigerungsverfahren über ein dem Gemeinschuldner gehörendes Grundstück zu stellen (OLG Hamm, NJW 1976, 1754; OLG Celle, ZIP 1981, 1005). Entsprechend anwendbar ist die Bestimmung im Insolvenzeröffnungsverfahren (BGH, MDR 1978, 39) und ...