Rz. 1
Die Pfändungsverbote des Abs. 1 dienen dem Schutz des Schuldners vor einer "Kahlpfändung" (BGH, NJW 2005, 681 = Vollstreckung effektiv 2005, 78 = NJW-RR 2005, 663; BGH, Vollstreckung effektiv 2011, 171 = NJW-Spezial 2012, 41 = NJW-RR 2011, 1366) aus sozialen Gründen im öffentlichen Interesse (vgl. BGHZ 137, 193, 197 m.w.N. = WM 1998, 355 = NJW 1998, 1058 = DGVZ 1998, 138; BFH JurBüro 2013, 103) und beschränken die Durchsetzbarkeit von Ansprüchen mithilfe staatlicher Zwangsvollstreckungsmaßnahmen. Sie sind Ausfluss der in Art. 1 GG und Art. 2 GG garantierten Menschenwürde bzw. allgemeine Handlungsfreiheit und enthalten eine Konkretisierung des verfassungsrechtlichen Sozialstaatsprinzips (Art. 20 Abs. 1, Art. 28 Abs. 1 GG). Dem Sinn und Zweck der Pfändungsschutzvorschriften entspricht es daher, dass die Organe des Staates dem Schuldner bei Zwangsvollstreckungen zugunsten des Gläubigers nicht wegnehmen dürfen, was der Staat mit Leistung von Sozialhilfe zur sozialen Sicherung wiedergeben müsste (VG Göttingen, Beschluss v. 12.6.2018, 1 B 323/18– Juris). Dem Schuldner und seinen Familienangehörigen soll dadurch die wirtschaftliche Existenz erhalten werden, um – unabhängig von staatlicher Hilfe – ein bescheidenes, der Würde des Menschen entsprechendes Leben führen zu können (BGH, DGVZ 2010, 77 = NJW-RR 2010, 642). Hierzu gehört es auch, dass die Gegenstände, die notwendige Grundlage zur Aufrechterhaltung seiner Erwerbstätigkeit sind, geschützt werden.
Rz. 2
Für die Auslegung des Abs. 1 geben die Regelungen des Sozialgesetzbuches wichtige Anhaltspunkte, weil die Pfändungsverbote und die Bestimmungen über die Sozialhilfe, die jeweils dem Schutz und der Erhaltung des Existenzminimums dienen, in einer engen Wechselbeziehung zueinander stehen. Da eine Pfändung nicht zulasten öffentlicher Mittel erfolgen darf, dürfen dem Schuldner bei der Zwangsvollstreckung keine Gegenstände entzogen werden, die ihm der Staat aus sozialen Gründen mit Leistungen der Sozialhilfe wieder zur Verfügung stellen müsste (BGH, VkBl 2004, 408 = WM 2004, 935 = NJW-RR 2004, 789). Die Auslegung des Umfangs der Pfändungsverbote muss darüber hinaus der sozialen und wirtschaftlichen Entwicklung Rechnung tragen. Daher muss die Auslegung den Lebensstandard in der BRD berücksichtigen. Für die Auslegung der Pfändungsverbote nach Abs. 1 ist weiterhin das gewandelte Verständnis in der Gesellschaft über die soziale Stellung behinderter Menschen von Bedeutung. Mit der Einfügung des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 in das GG, dass niemand wegen seiner Behinderung benachteiligt werden darf, ist der Gleichstellung von behinderten mit nicht behinderten Menschen Verfassungsrang eingeräumt. Weitere wichtige Gesetze sind in diesem Zusammenhang das Neunte Buch des Sozialgesetzbuches (SGB IX) – Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen – (BGBl. I S. 1046 ff.) und das Gesetz zur Gleichstellung behinderter Menschen und zur Änderung anderer Gesetze (BGBl. I S. 1467 ff.). Hieraus wird deutlich, dass – soweit dies durch medizinische und technische Maßnahmen möglich ist – behinderte Menschen in das gesellschaftliche Leben integriert und die mit ihrer Behinderung verbundenen Nachteile verringert werden sollen.
Rz. 3
Die Vorschrift ist mit Blick auf die Grundrechte auszulegen und anzuwenden (BFH, NJW 1990, 1871 = BFHE 159, 421 = BStBl II 1990, 416 = BB 1990, 988 = KKZ 1990, 132 = Information StW 1990, 309 = HFR 1990, 351 = DGVZ 1990, 118 = JurBüro 1990, 1358 = StRK AO 1977 § 295 R. 1; vgl. auch RZ 1). Bei der Anwendung der Bestimmungen des § 811 ZPO sind auch die örtlichen und zeitlichen Verhältnisse mit zu berücksichtigen. Insofern ist stets auf die Besonderheiten des Einzelfalls einzugehen (LG Berlin, NJW-RR 1992, 1038). Ist der Schuldner z. B. durch eine längere Freiheitsstrafe an der Nutzung eines gepfändeten Gegenstandes gehindert, so kann er sich nicht auf die Unpfändbarkeitsbestimmungen berufen (OLG Köln, DGVZ 1982, 62).
Rz. 4
Der Gerichtsvollzieher hat die Pfändungsverbote des § 811 Abs. 1 ZPO von Amts wegen zu beachten und dessen Voraussetzungen selbstständig zu prüfen (LSG Nordrhein-Westfalen, Urteil v. 25.11.2015, L 11 KA 18/14 – Juris; BGH, BGHZ 137, 193, 197 m. w. N. = WM 1998, 355 = NJW 1998, 1058). Der Schutz kann nicht dadurch umgangen werden, dass die Pfändung oder Verwertung eines unpfändbaren Gegenstands durch Herausgabe eines pfändbaren Gegenstands erfolgt. Ein solches Vorgehen unterläuft den Pfändungsschutz der Vorschrift und lässt sich auf keine Grundlage stützen (VG Göttingen, KKZ 2020, 12). Sind allerdings andere Pfandobjekte nicht in ausreichendem Maß vorhanden, hat der Gerichtsvollzieher die Sache bei Zweifeln über die Unpfändbarkeit zu pfänden.
Rz. 5
Abs. 2 enthält eine Privilegierung für Eigentumsvorbehaltsverkäufer als Gläubiger, die wegen eines Zahlungsanspruchs aus der gelieferten Sache vollstrecken.
Rz. 6
Abs. 3 entspricht der Regelung des § 811c Abs. 2 ZPO a.F., Abs. 4 der Regelung des § 812 ZPO a.F. in der bis zum 31.12.2021 geltenden Fassung.