Prof. Dr. Dimitrios Stamatiadis, Prof. Dr. Spyros Tsantinis
Rz. 45
Durch das Gesetz Nr. 1329/1983 wurde die Liberalisierung des griechischen Familienrechts verwirklicht. Als einziger Scheidungsgrund gilt nunmehr die starke Zerrüttung der Eheverhältnisse, und zwar unabhängig vom Verschulden eines der Ehegatten (Zerrüttungsprinzip, Art. 1439 ZGB). Ferner wird im neuen Recht die einverständliche Scheidung offiziell anerkannt (Art. 1441 ZGB). Die streitige Ehescheidung erfolgt nur durch ein unwiderrufliches Gerichtsurteil (Art. 1438 ZGB, Art. 613 ZPO). Die einvernehmliche Ehescheidung (siehe dazu näher Rdn 50) erfolgt nach dem durch das Gesetz Nr. 4509/2017 novellierten Art. 1441 ZGB durch das Einreichen eines von einem Notar bestätigten Scheidungsvertrags der Eheleute beim zuständigen Standesamt. Im geltenden Recht ist somit die einvernehmliche Ehescheidung ersichtlich vereinfacht worden. Im Scheidungsvertrag, der von den Rechtsanwälten der Eheleute beim Notar eingereicht wird, müssen ggf. auch Vereinbarungen über die Regelung der elterlichen Sorge und über den Unterhalt für die Kinder enthalten sein. Die Regelung eines eventuellen Zugewinnausgleichs muss dagegen nicht vor oder bei der Ehescheidung miterledigt werden, sondern kann auch später erfolgen. Eine Ausnahme vom Anwendungsbereich der Vorschriften für die Eheauflösung ist die Scheidung zwischen Muslimen, die in Art. 4 Abs. 1 des Gesetzes Nr. 147/1914 geregelt ist. Die verfahrensrechtlichen Vorschriften über die Zuständigkeit und den Prozess vor dem Mufti sind nach dem Gesetz Nr. 4511/2018 nunmehr im Präsidialdekret Nr. 52/2019 umfassender geregelt.
Rz. 46
Das griechische Scheidungsrecht unterscheidet zwischen absoluten und relativen Scheidungsgründen. Als absolute Scheidungsgründe werden die zweijährige Trennung (Art. 1439 Abs. 3 ZGB) sowie die Verschollenheit (Art. 1440 ZGB) betrachtet. Der einzige relative Scheidungsgrund ist die starke Zerrüttung (Art. 1439 Abs. 1, 2 ZGB). Das Vorliegen eines absoluten Scheidungsgrundes reicht für das Aussprechen der Ehescheidung aus. Im Fall eines relativen Scheidungsgrundes muss vom Gericht noch festgestellt werden, welche Auswirkungen dieser auf die Ehe hatte. Das Vorliegen eines solchen Scheidungsgrundes allein genügt für die Eheauflösung nicht. Nach Art. 1439 Abs. 1 ZGB kann jeder der Eheleute die Scheidung verlangen, wenn die zwischen den Eheleuten bestehende Beziehung – sei es aus Gründen, die den Beklagten oder beide Eheleute betreffen – so stark zerrüttet ist, dass die Fortsetzung der Ehebeziehung für den Kläger ernsthaft unzumutbar ist. Unter dem Begriff "jeder der Eheleute kann die Scheidung verlangen …" ist ein Gestaltungsklagerecht gemeint, das nur durch eine Gestaltungsklage des Art. 71 ZPO ausgeübt wird. Darüber hinaus enthält die "starke Zerrüttung" die folgenden wesentlichen Elemente:
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Die Zerrüttung beruht auf dem Verhältnis der Ehegatten zueinander oder auf Tatsachen, die sich auf die Person des Beklagten oder auf beide Ehegatten beziehen. Das Verschulden der Eheleute spielt in diesem Fall keine Rolle. Die objektive Ehezerrüttung wird dadurch beschränkt, dass dem schuldigen Ehegatten nicht das Recht zugesprochen wird, die Scheidung zu beantragen (Berücksichtigung des Verschuldensprinzips im weiteren Sinne). |
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Die Ereignisse oder das Verhalten müssen nicht allgemein geeignet sein, eine Ehe zu zerrütten (objektives Element). Es wird allein darauf abgestellt, dass sie die Ehe stark zerrüttet haben. |
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Wegen der starken Zerrüttung wird die eheliche Gemeinschaft für den Kläger "begründet unerträglich". |
Rz. 47
Im Fall der Bigamie, des Ehebruchs, des Verlassens des Klägers sowie des Anschlags auf das Leben des Klägers wird die starke Zerrüttung widerlegbar vermutet (Art. 1439 Abs. 2 ZGB). Für die Begründung dieser Eheverfehlungen ist außer dem Verschulden noch die Zurechnungsfähigkeit des betreffenden Ehegatten erforderlich, sonst können sie als widerlegbare Vermutungen nicht eingreifen.
Rz. 48
Leben die Ehegatten seit zwei Jahren dauernd getrennt, wird die Zerrüttung unwiderlegbar vermutet (Art. 1439 Abs. 3 S. 1 ZGB). In diesem Fall kann die Scheidung verlangt werden, selbst wenn der Zerrüttungsgrund ausschließlich die Person des Klägers betrifft. Ein Zusammenleben der Ehegatten über kürzere Zeit, das ihrer Versöhnung dient, unterbricht die vierjährige Frist nicht (Art. 1439 Abs. 3 S. 2 ZGB).
Rz. 49
Art. 1440 ZGB sieht Verschollenheit als absoluten Scheidungsgrund vor. Voraussetzung für die Ehescheidung ist, dass das Gerichtsurteil über die Verschollenheit rechtskräftig geworden ist. Die Ehe wird nicht automatisch gelöst, sondern der Ehegatte des Verschollenen muss die Scheidung beantragen.