Leitsatz

Kernproblem der Entscheidung war, welche Anforderungen an das Bestehen eines gewöhnlichen Aufenthalts im Rahmen eines Rückführungsbegehrens nach dem Haager Übereinkommen über die zivilrechtlichen Aspekte internationaler Kindesentführung zu stellen sind.

 

Sachverhalt

Aus der Ehe der Kindeseltern waren zwei in den Jahren 1997 und 2002 geborene Töchter hervorgegangen. Im Februar 2004 stellten die Eltern für die ganze Familie einen Antrag auf Auswanderung nach Australien. Am 30.09.2004 erhielt die Familie den Status von ständigen Einwohnern in Australien. Die Familie kam am 26.11.2004 in Westaustralien an. Mitgenommen wurde ein großer Teil der Kleidung der Kinder. Die von der Familie zuvor in Deutschland bewohnte Wohnung war noch nicht gekündigt worden. Der überwiegende Teil der Möbel verblieb in der Wohnung, zwei Möbelstücke waren verkauft worden. Die ältere Tochter, die vor ihrer Abreise die Vorschulklasse besucht hatte, erhielt von dort lediglich eine Beurlaubung, wurde jedoch noch nicht endgültig abgemeldet. Nach ihrer Ankunft in Australien wohnte die Familie bei den Eltern des Vaters. Die ältere Tochter wurde im Dezember 2004 in einer Schule angemeldet, die sie ab Februar 2005 besuchen sollte. Silvester 2004 erklärte die Mutter dem Vater, dass sie wegen der Regelung der Wohnungsangelegenheiten und der schulischen Belange der älteren Tochter mit beiden Kindern nach Deutschland fliegen müsse. Der Vater war hiermit nicht einverstanden, nahm den Pass der älteren Tochter an sich und verhinderte auf diese Weise ihre Reise nach Deutschland. Die Mutter flog daraufhin am 1.1.2005 mit der jüngeren Tochter alleine nach Deutschland und kehrte am 21.01.2005 nach Australien zurück. Am 2.2.2005 besuchte die ältere Tochter zum ersten Mal die australische Grundschule. Am 7.2.2005 flog die Mutter ohne Wissen des Vaters mit beiden Kindern nach Deutschland. Seitdem lebte sie erneut mit den Kindern in der zuvor von der Familie bewohnten Wohnung.

Das AG hat den Rückführungsantrag des Vaters zurückgewiesen, da die Kinder am 7.2.2005 ihren gewöhnlichen Aufenthalt noch immer in Deutschland gehabt hätten.

Gegen diesen Beschluss wandte sich der Vater mit der Beschwerde und beantragte, den Beschluss des FamG abzuändern und die Mutter zu verpflichten, die Kinder binnen einer vom Gericht zu bestimmenden Frist an ihren früheren Aufenthaltsort in Australien zurückzubringen.

Die Beschwerde des Vaters blieb in der Sache ohne Erfolg.

 

Entscheidung

Das OLG wies die Beschwerde des Vaters zurück mit der Begründung, Art. 12 Abs. 1 HKiEntÜ erfordere ein widerrechtliches Verbringen. Dies setze nach Art. 3a HKiEntÜ unter anderem voraus, dass das Kind im Zeitpunkt des Verbringens aus einem Vertragsstaat dort seinen gewöhnlichen Aufenthalt habe.

Da das HKiEntÜ ein völkerrechtliches Abkommen sei, sei der Begriff des "gewöhnlichen Aufenthalts" um so mehr abkommensautonom auszulegen, als es sich hierbei um einen Begriff mit zentraler Funktion bei der Bestimmung des sachlichen und persönlichen Anwendungsbereichs des Abkommens handele. Da dort der Begriff selbst nicht näher definiert sei, bedürfe es einer Analyse des erläuterten Berichts zum HKiEntÜ. Zentraler Schutzzweck des HKiEntÜ sei es, Kinder davor zu schützen, dass sie aus ihrem gewöhnlichen Lebensraum herausgerissen würden und Schäden durch eine rechtswidrige Entwurzelung erlitten. Zum einen müsse daher der gewöhnliche Aufenthalt des Kindes selbständig und unabhängig von dem der Eltern ermittelt werden, zum anderen müssten die Kinder in dem Staat, aus dem sie entführt werden, sozial integriert sein. Dies lasse sich nur im Wege einer Gesamtschau der Einzelfallumstände ermitteln, wobei neben der Zeitdauer des Aufenthalts insbesondere auch die familiären, freundschaftlichen, beruflichen und schulischen Beziehungen in Betracht kämen. Aus Sicht des Kindes stelle sich ein Aufenthalt an einem neuen Ort um so mehr als "gewöhnlich" dar, je länger der Aufenthalt an diesem Ort andauere. Ein rechtsgeschäftlicher oder natürlicher Bleibewille sei hingegen nicht erforderlich.

Nach diesen Maßstäben hätten die Kinder noch keinen gewöhnlichen Aufenthalt in Australien begründet.

 

Link zur Entscheidung

OLG Frankfurt am Main, Beschluss vom 15.02.2006, 1 WF 231/05

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