Leitsatz
Gegenstand des Verfahrens war der anzulegende Haftungsmaßstab eines Elternteils, der seine Aufsichtspflicht gegenüber einem minderjährigen Kind allenfalls fahrlässig verletzt hat.
Sachverhalt
Die Klägerin begehrte von der Beklagten im Wege des Gesamtschuldnerausgleichs die Freistellung von Schadensersatzansprüchen in Höhe von 50 %, die dem minderjährigen Sohn der Beklagten gegen die Versicherungsnehmerin der Klägerin nach einem Verkehrsunfall am 15.7.2007 zustanden.
Hintergrund dessen war folgender Sachverhalt:
Die Beklagte wollte mit ihrem seinerzeit sechs Jahre alten Sohn eine Bundesstraße überqueren. Ein Fußgängerüberweg oder eine Lichtzeichenanlage gab es an der Einmündung, an der die Beklagte mit ihrem Sohn stand, nicht. Beide blieben an der Einmündung der von ihnen mit dem Rad befahrenen Straße stehen und waren abgestiegen, um vor dem Überqueren der Bundesstraße den Verkehr beobachten zu können. Der nächste mit einer Ampel versehene Überweg lag 200 m entfernt und war weder durch einen Geh- noch durch einen Radweg erreichbar.
Die von der Sonne geblendete Beklagte machte in der Annahme, die Straße sei zum Überqueren frei, eine leichte Vorwärtsbewegung und blieb sofort wieder stehen, als sie das Fahrzeug der Versicherungsnehmerin, der Klägerin, bemerkte. Ihr Sohn lief daraufhin los und wurde vom Fahrzeug der Versicherungsnehmerin erfasst.
Das LG hat die Klage unter Hinweis auf den Haftungsmaßstab der §§ 277, 1664 Abs. 1 BGB abgewiesen und zur Begründung ausgeführt, dass ein Ausgleichsanspruch der Klägerin gegen die Beklagte nicht bestehe, weil diese ihrem Sohn gegenüber nicht hafte. Die Beklagte habe ihre Aufsichtspflicht gegenüber ihrem Sohn allenfalls fahrlässig verletzt. Es sei jedoch der Haftungsmaßstab des § 1664 Abs. 1 BGB anzuwenden. Grobe Fahrlässigkeit der Beklagten liege nicht vor.
Hiergegen legte die Klägerin Berufung ein und verfolgte ihren erstinstanzlich gestellten Antrag weiter.
Ihr Rechtsmittel blieb ohne Erfolg.
Entscheidung
Das OLG folgte der Auffassung des LG, das zutreffend angenommen habe, dass die Beklagte ihrem Sohn gegenüber aus dem Unfallereignis nicht hafte, so dass schon kein Gesamtschuldverhältnis zwischen ihr und der Versicherungsnehmerin, der Klägerin, bestehe.
Das OLG wies zunächst darauf hin, dass die Frage, ob der Haftungsmaßstab der §§ 1664 Abs. 1, 277 BGB auch dann Anwendung finde, wenn es nicht nur um die Verletzung rein familienrechtlich begründeter Sorgfaltspflichten gehe, sondern zugleich auch um die Verletzung allgemeiner deliktischer Verhaltenspflichten, insbesondere bei der Teilnahme am Straßenverkehr, umstritten sei. Es schloss sich für die vorliegende Fallkonstellation der Ansicht an, dass der Haftungsmaßstab des § 1664 Abs. 1 BGB anzuwenden sei. Dies gelte jedenfalls, wenn - wie hier - die Eltern ihr Kind nicht als Kraftfahrer unter Verstoß gegen die Verkehrsvorschriften schädigten (vgl. zu letzterem BGHZ 61, 101 ff.; BGHZ 63, 51 ff.; BGH NJW 2009, 1875 f.).
Das OLG folgte der Auffassung des LG auch insoweit, dass ein haftungsbegründendes, allerdings nicht verkehrsordnungswidriges Verhalten ausschließlich in der leichten Vorwärtsbewegung der Beklagten gesehen werden könne, die ihren Sohn veranlasst habe, über die Straße zu rennen. Nicht beanstandet wurde, dass die Beklagte ihren Sohn, einen im Straßenverkehr erfahrenen und in Begleitung Erwachsener sicheren Verkehrsteilnehmer, weder festgehalten noch ihn angewiesen hatte, erst auf Aufforderung loszulaufen. Angesichts der örtlichen Gegebenheiten sei es auch nicht fahrlässig gewesen, die Bundesstraße im Einmündungsbereich überqueren zu wollen. Da die Beklagte mit dem Kind beim Schieben der Räder als Fußgänger unterwegs gewesen sei, sei es nicht vorwerfbar, dass das Kind keinen Helm getragen habe, zumal dies auch bei Radfahrern nicht vorgeschrieben sei.
Das Verhalten der Beklagten erfülle schon nicht die objektiven Merkmale grober Fahrlässigkeit. Nach ständiger Rechtsprechung des BGH handele grob fahrlässig derjenige, der die im Verkehr erforderliche Sorgfalt nach den gesamten Umständen in ungewöhnlich hohem Maß verletze und unbeachtet lasse, was im gegebenen Fall jedem einleuchten müsse (vgl. nur BGH NJW 2007, 2988 Tz. 15).
Die leichte Vorwärtsbewegung der Beklagten infolge der irrtümliche Annahme, die Straße sei frei, verletze die im Verkehr erforderliche Sorgfalt nicht in einem derart ungewöhnlich hohen Maß.
Link zur Entscheidung
OLG Bamberg, Urteil vom 14.02.2012, 5 U 149/11