Leitsatz (amtlich)
1. Zur Fähigkeit eines Minderjährigen, einen Antrag auf Inobhutnahme zu stellen und zu verfolgen.
2. Eine ärztliche Untersuchungsmaßnahme im Sinne des § 62 SGB I liegt nicht nur vor, wenn sie dazu dient, Feststellungen über den Gesundheitszustand zu treffen, sondern auch dann, wenn hierdurch das Alter eines Hilfesuchenden (hier eines unbegleiteten Flüchtlings) aufgeklärt werden soll.
3. § 33a Abs. 1 SGB I enthält kein einseitiges Altersbestimmungsrecht des Berechtigten oder Verpflichten. Bei Zweifeln an der Richtigkeit des angegebenen Alters muss die Behörde die (Erst-)Angaben nicht ungeprüft übernehmen.
4. § 62 SGB I lässt es im Sinne von § 25 Abs. 1 Satz 1 Röntgenverordnung zu, an Menschen Röntgenstrahlung anzuwenden.
Normenkette
VwGO § 62; ZPO § 55; SGB I § 33a Abs. 1, § 36 Abs. 1, § 62; SGB VIII § 42; Röntgenverordnung § 25 Abs. 1 S. 1
Verfahrensgang
VG Hamburg (Beschluss vom 13.01.2011; Aktenzeichen 13 E 50/11) |
Tenor
A
Dem Antragsteller wird für das Beschwerdeverfahren Prozesskostenhilfe ohne Ratenzahlungsverpflichtung bewilligt und Rechtsanwältin Daniela Hödl zur Vertretung beigeordnet.
B
Die Beschwerde des Antragstellers gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts Hamburg vom 13. Januar 2011, soweit das Verwaltungsgericht es abgelehnt hat, dem Antragsteller vorläufigen Rechtsschutz zu gewähren, wird zurückgewiesen.
Der Antragsteller trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens. Gerichtskosten werden nicht erhoben.
Tatbestand
I.
Der Antragsteller begehrt einstweiligen Rechtsschutz im Hinblick darauf, dass die Antragsgegnerin seine weitere Unterbringung in einer Jugendhilfeeinrichtung aufgrund nicht ausgeräumter Zweifel an seiner Minderjährigkeit ablehnt.
Gegenüber der Antragsgegnerin gab der Antragsteller nach dem Inhalt der Sachakte an, am 6. Februar 1995 in Afghanistan geboren zu sein. Mit Bescheid vom 21. Dezember 2010 nahm die Antragsgegnerin ihn – wie es darin hieß – gemäß § 42 SGB VIII in Obhut, und zwar vorläufig, da es Zweifel an seinem Alter gebe. Die Antragsgegnerin forderte den Antragsteller auf, umgehend Dokumente bzw. Unterlagen vorzulegen, aus denen sein Alter hervorgehe, oder Zeugen zu benennen, die etwas zu seinem Alter sagen könnten. Weiter kündigte sie an, dass er aufgefordert werde, sich zur Altersfeststellung medizinisch begutachten zu lassen, und dass sie auf der Basis dieses Gutachtens abschließend über die Fortführung der Inobhutnahme entscheiden werde.
Die Antragsgegnerin brachte den Antragsteller in der Einrichtung des Kinder- und Jugendnotdienstes der Hamburger Jugendämter in der Feuerbergstraße unter. Sie forderte ihn mit Schreiben vom 28. Dezember 2010 und 5. Januar 2011 auf, sich folgenden Untersuchungen zu unterziehen:
“a) Untersuchung und Anamnese durch einen rechtsmedizinisch erfahrenen Arzt im Hinblick auf allgemeine körperliche Reifezeichen sowie Hinweise auf mögliche Entwicklungsverzögerungen;
b) wenn notwendig, zusätzlich eine zahnärztliche Untersuchung zur Feststellung der Wurzelentwicklung der Weisheitszähne;
c) wenn notwendig, zusätzlich eine radiologische Untersuchung des Kiefers (Panoramaschichtaufnahme u.a. zur Feststellung möglicher Gründe einer Entwicklungsverzögerung);
d) wenn notwendig, zusätzlich eine radiologische Untersuchung der Schlüsselbeine.
Die Durchführung dieser Untersuchungskette ist im Ermessen der durchführenden Ärzte zu beenden, sobald für die Erstellung eines Altersgutachtens hinreichend gesicherte Erkenntnisse gewonnen wurden.”
Die Antragsgegnerin setzte dem Antragsteller eine Frist zur Mitwirkung bis zum 5. Januar 2011 bzw. 7. Januar 2011 und wies darauf hin, dass die Inobhutnahme ohne weitere Ermittlungen beendet werden könne, wenn er nicht auf andere Weise einen Nachweis über sein Lebensalter erbringe und er an der Untersuchung ohne wichtigen Grund nicht teilnehmen oder sonst nicht mitwirken sollte.
Mit Bescheid vom 7. Januar 2011 beendete die Antragsgegnerin gestützt auf § 66 Abs. 1 SGB I die “Inobhutnahme durch den Kinder- und Jugendnotdienst der Freien und Hansestadt Hamburg vom 21.12.2010” bis zur Nachholung der Mitwirkung und forderte ihn auf, die Einrichtung zu verlassen. Außerdem ordnete sie die sofortige Vollziehung an. Zur Begründung führte sie aus: Der Antragsteller sei nach § 42 Abs. 1 Satz 1 Ziff. 3 SGB VIII in Obhut genommen worden. An seiner Angabe, er sei noch minderjährig, bestünden jedoch auf Grund des äußeren Erscheinungsbildes, insbesondere wegen des postpubertären Körperbaus und des Bartwuchses, Zweifel. Den angebotenen Untersuchungstermin am 5. Januar 2011 bzw. 7. Januar 2011 habe er nicht wahrgenommen und die Zweifel an seiner Altersangabe auch nicht auf andere Weise ausgeräumt. Damit habe er seine Mitwirkungspflicht nach § 62 SGB I verletzt. Ein wichtiger Grund, der die Mitwirkungspflicht ausgeschlossen hätte, liege nicht vor. Die angeordnete Untersuchung sei verhältnismäßig. Die einzelnen Untersuchungen seien nicht mit erheblichen Schmerzen verbunden und stellten keinen erheblichen Eingriff in die körperliche Unversehrt...